You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson (German Edition)
fällt mir immer noch schwer, Vermutungen und Spekulationen beiseitezuschieben, wenn ich an seinen Tod denke. Ich habe nächtelang wachgelegen und mich gefragt, was ihn wohl so krank machte. Verabreichte ihm der Arzt solch hohe Dosen an Anästhetika, dass sein Stoffwechsel langsam, aber sicher vergiftet wurde? Konnte mein Bruder wissen, wie viel Propofol ihm injiziert wurde?
Was auch immer mit ihm geschah, die Menschen, die sich während der Proben in seiner Nähe aufhielten – die Visagistin Karen Faye sowie Michael Bush und Dennis Thompson in der Garderobe –, waren krank vor Angst und bettelten darum, dass einer der Verantwortlichen endlich einschreitet. Michaels angeschlagener Gesundheitszustand ließ sich in der letzten Woche im Forum von niemanden mehr leugnen, denn es wurde beobachtet, wie er aus dem Gebäude gebracht wurde – mit den Armen die Schultern der Bodyguards umklammernd. Er wirkte wie jemand, der entweder kollabierte oder zu schwach zum Stehen war.
An dem Nachmittag übernahm Travis Payne Michaels Rolle bei dem Probedurchgang des Konzerts. Aber dennoch dachte niemand daran, meinem Bruder die dringend benötigte medizinische Versorgung zukommen zu lassen – zumindest weiß ich nichts davon. Möglicherweise verließen sich alle auf Dr. Murray.
Hätte sich wenigstens jemand an uns gewandt – seine Familie –, so hätten wir ihn auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus gebracht. Die Tatsache, dass uns niemand verständigte, kann ich nur schwer akzeptieren. Doch die Verantwortung, entsprechend zu handeln, liegt für mich bei AEG, denn ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie ihm eine gewisse Aufmerksamkeit schuldeten und dass sein Wohlergehen eindeutig in ihrem Interesse lag.
Das Augenmerk der meisten Menschen – und auch die Ermittlungen des LAPD – hat sich bislang auf den 25. Juni beschränkt, und die verwirrenden und beunruhigenden Zwischenfälle und daraus entstehende Komplikationen wurden nicht in den Blick gefasst. Eigentlich aber hätte es jeder bemerken müssen, dass schon lange vorher etwas im Argen lag. Trotzdem zog man die aufreibenden Proben durch, die zwischenzeitlich ins Staples Center verlegt worden waren.
Statt Michael zu entlasten, wurde der Druck auf ihn durch den Ortswechsel noch erhöht. Ein Angestellter, der Teile der Proben von der Bühnenseite aus miterlebte, berichtete mir davon: „Michael wirkte wie ein großer, ehemals mächtiger Vogel mit zwei gebrochenen Flügeln. Er stand nahe am Abgrund. Und sie trieben ihn immer weiter an, trieben ihn weiter und weiter an, darauf wartend, dass er senkrecht in den Himmel aufsteigt … doch er sollte stürzen.“
Je mehr Informationen ich über die letzten Proben erhielt, desto klarer wurde mir, dass der Fokus auf den 50 Konzerten in London lag, die um jeden Preis absolviert werden sollten. Trotz des ganzen Drucks, der auf allen lastete, betrachtete AEG den King of Pop als Auftritts-Roboter und nicht als menschliches Wesen.
Von allen Anwesenden bei den Proben kümmerte sich nur der Produzent Kenny Ortega angemessen um meinen Bruder: Er schickte ihn einmal zum Ausruhen nach Hause und fragte Michael, wenn die Kameras gerade nicht liefen, ob er ihm in irgendeiner Weise helfen könne. Er achtete darauf, dass mein Bruder genug aß, schnitt für ihn das Hühnerfleisch und verabreichte ihm sogar eine Fußmassage. Kenny wusste, dass Michael mehr essen musste. Doch AEG hätte konsequente Maßnahmen ergreifen müssen. Sogar einem Blinden wäre aufgefallen, dass diese Tour abgesagt werden musste, denn mein Bruder befand sich in einer körperlich allzu schlechten Verfassung.
Stattdessen lautete die Maxime: „The show must go on“, sodass verschiedene Delegationen der AEG am 18. und 20. Juni zu seinem Haus geschickt wurden, um mit ihm das Fehlen bei den Proben zu besprechen. Die ganz klare Absicht der „Gipfeltreffen“ lag nicht darin, artige Gespräch bei Tee und Plätzchen zu führen, sondern „ein deutliches Wörtchen mit ihm zu reden“ und ihn an die vertraglichen Verpflichtungen zu erinnern. Während eines dieser Meetings lasen sie ihm – er drückte es so aus – „die Leviten“. Basierend auf Gesprächen, die er danach führte, verdeutlichten sie ihm, dass das Unternehmen den Stecker ziehe, wenn er nicht komme und seine Leistung abliefere. Sie erinnerten ihn zusätzlich auch an die Gefahr, „alles zu verlieren“.
Das sollte wohl die Strategie von Zuckerbrot und Peitsche sein, die mein Bruder brauchte, damit
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