You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson (German Edition)
liebte es, von den Hotelfenstern aus Wasserbomben auf Leute zu werfen, Stinkbomben in den Fahrstühlen loszulassen oder die Plastikeimer für Eiswürfel mit Wasser gefüllt auf eine halb geöffnete Tür zu stellen. Er stiftete uns alle zu solchem Unsinn an, und zu unseren Opfern zählten in erster Linie Suzanne de Passe, Bill Bray, Jack Richardson und Motowns PR-Berater Bob Jones. Suzanne hatte ein gutes Gespür dafür, wann wir mal wieder etwas im Schilde führten, und betrat unser Zimmer immer mit größter Vorsicht, aber Bob fiel jedes Mal auf uns herein.
Am härtesten waren die Nächte in den Hotels vermutlich für Jackie, der damals schon fast 21 war, und für den 17-jährigen Tito. Die beiden wussten natürlich, dass die Roadies, die meist nicht viel älter waren als sie selbst, in Discos und Bluescafés gingen, während sie sozusagen Hausarrest hatten. Jackie verbrachte die Abende damit, Sportsendungen im Fernsehen zu gucken, und Tito klebte zahllose Airfix-Modelle von Flugzeugen und Schlachtschiffen zusammen.
Ich glaube, Bill Bray taten wir leid. Er bekam ja mit, dass wir wirklich hart arbeiteten, dass wir reisten, probten, auftraten und dann um unser Leben liefen, aber keine Möglichkeit hatten, on the road auch einmal zu entspannen. 1970 gaben wir etwa 15 Konzerte, und im Jahr darauf absolvierten wir unsere erste richtig große Tour mit etwa 46 Shows im ganzen Land; darüber hinaus gab es zahlreiche Fernsehauftritte, Interviews und anderweitige Veranstaltungen. Bill war ein ehemaliger Kriminalbeamter, den Motown uns zugewiesen hatte. Er hatte eine onkelhafte Art, war breitschultrig und hellhäutig, mit schütterem Haar und graumeliertem Bart, und er hörte schlecht, so dass wir ihn immer anschreien mussten. Wir gaben ihm den Spitznamen „Shack Pappy“, und wir hatten großen Respekt vor ihm, vor allem, weil er wirklich Humor hatte und auch über sich selbst lachen konnte. Manchmal war unser hektischer Terminplan auch für ihn etwas zu viel, und er schlief backstage oder im Hotel vor einem Auftritt ein. Michael, der sich am leisesten anschleichen konnte, kroch dann zu ihm hin und band ihm die Schnürsenkel zusammen. Anschließend brüllten wir aus Leibeskräften: „Bill! Bill! Hilfe!“ Er sprang auf und kippte dann um wie ein gefällter Baum.
Wir kamen mit Bill hervorragend aus, deshalb war er auch nicht allzu streng, wenn er uns abends nach elf dabei erwischte, wie wir versuchten, uns an unserem Wachposten vorbeizuschleichen. „Hey, du Witzbold, ich habe dich wohl gesehen!“, rief er dann.
„Bill“, bettelte ich dann. „Ich will doch nur noch einen kleinen Mitternachtsimbiss!“ Auf den Hotelfluren stand meist neben dem Eisspender auch ein Automat mit Süßigkeiten, und Ziel unserer nächtlichen Ausfälle war es meist, sich noch ein paar Kekse, Chips und Cola zu besorgen.
Zwar ging es Michael bei der Musik ums Feeling, aber er betrachtete sie auch als eine „Wissenschaft“. Wir waren gerade erst in das Haus am Bowmont Drive gezogen, als er begann, sich intensiv mit Kompositionslehre zu beschäftigen. So wie ein Wissenschaftler die DNA eines Menschen entschlüsseln will, war er daran interessiert, den Aufbau eines Songs zu knacken. Gemeinsam hörten wir die Klassiksender im Radio, analysierten die Struktur eines Musikstücks und versuchten zu „sehen“, welche Farben, Stimmungen und Gefühle jedes Instrument vermittelte. „Musik muss man sehen, nicht nur hören“, sagte Michael. Ein glockenhelles Klavier war wie plätschernder Regen. Ein Waldhorn wie ein Sonnenaufgang oder -untergang. Ein gestrichenes Cello erzeugte ein geheimnisvolles Flair oder ein Gefühl von Traurigkeit. Man musste die Geschichte sehen können, wenn man den Song hörte.
Michaels Lieblingsstück war die Nussknacker-Suite von Tschaikowsky, aber er liebte viele klassische Musikstücke – wie sie leise mit Streichern begannen, sich dramatisch steigerten und dann wieder ruhiger wurden. Diese Struktur, diese A-B-A-Form, nahmen wir immer wieder auseinander. Und diese klassische Inspiration findet sich in einem Großteil seiner Songs: Michaels Stärke war es, einen melodischen Aufbau und einen großartigen Text mit einem Beat zu kombinieren, der für den richtigen Pop-Appeal sorgte. Bei „Heartbreak Hotel“ oder „Dirty Diana“ hört man die klassische Struktur, die sich durch diese Stücke zieht, deutlich heraus: Michael nutzte die Instrumentierung, um die Geschichte zu verdeutlichen. Das zeigt sich besonders daran,
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