Young Sherlock Holmes 1
als die Tür schließlich aufging und ein Mann das Zimmer betrat. Er war klein – noch kleiner als Sherlock –, und sein Bäuchlein wölbte sich hervor, als hätte er ein Kissen unter sein Jackett gestopft. Auf dem Kopf trug er einen komischen kleinen Hut ohne Krempe, der einfach nur wie ein kurzer dicker Turm aus roter Seide aussah.
»Bambus«, sagte er.
»Pardon?«
»Die Pflanzen auf der Tapete. Bambus. Eine immergrüne mehrjährige Pflanze aus der Familie der Gräser. Ich habe in meiner Jugend einige Zeit in China verbracht und mich damit ziemlich vertraut gemacht. Bambus ist das am schnellsten wachsende holzartige Gewächs der Welt, weißt du. Unter bestimmten Bedingungen können die größeren Bambusarten über 60 Zentimeter am Tag wachsen. Die Tapete stammt übrigens aus China. Sie ist aus Reispapier.«
Sherlock war nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte. »Papier, das man aus
Reis
macht?«
»Ein allgemein verbreitetes Missverständnis«, erwiderte der Professor. »Tatsächlich wird Reispapier aus dem Saft eines kleinen Baumes hergestellt.
Tetrapanax papyrifer
, um genau zu sein.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Du sagst, du bist Amyus Crowes Schüler?«, fragte er. Hinter seinen Brillengläsern musterte er Sherlock mit intelligenten, vogelähnlichen Augen, die vor Neugierde nur so sprühten.
»Ja, Sir«, erwiderte Sherlock und kam sich merkwürdigerweise vor, als wäre er wieder zurück in der Schule.
»Ich habe heute Morgen einen Brief von MrCrowe bekommen. Seltsam. Wirklich sehr seltsam. Bist du deswegen hier?«
»Ging es in dem Brief um die zwei toten Männer?«
Der Professor nickte. »Darum ging es in der Tat.«
»Deswegen bin ich hier. Ich habe MrCrowe sagen hören, Sie seien ein Experte für Krankheiten.«
»Ich bin auf Tropenkrankheiten spezialisiert. Aber ja, mein Fachgebiet deckt einen Großteil der schweren Infektionskrankheiten ab. Vom Tapanuli-Fieber und Schwarzer Formosa-Fäulnis bis hin zu Cholera und Typhus. Wenn ich richtig verstehe, sind diese beiden Männer an einer unbekannten Krankheit gestorben.«
»Ich bin nicht sicher.« Sherlock wühlte in seiner Jackentasche und zog den Umschlag hervor, in dem Mycrofts Brief gesteckt hatte und der nun eine Probe des gelben Pulvers enthielt. »Das hier habe ich in der Nähe einer der beiden Leichen eingesammelt. Aber ich weiß, dass beide Tote damit in Kontakt waren«, fügte er hastig hinzu. »Ich habe keine Ahnung, worum es sich handelt, doch ich glaube, dass es etwas mit den beiden Todesfällen zu tun hat. Es könnte giftig sein.«
Der Professor streckte die Hand nach dem Umschlag aus. »In diesem Fall werde ich es mit Vorsicht behandeln«, sagte er.
»Sie glauben mir also?«, fragte Sherlock.
»Du hast den ganzen weiten Weg auf dich genommen, um mit mir zu reden. Also vermute ich mal, dass du es ernst meinst. Das Mindeste, was ich tun kann, ist es genauso ernst zu nehmen wie du. Und außerdem: Ich kenne Amyus Crowe und halte ihn für einen integeren Mann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich mit einem Schüler abgibt, der sich gerne albernen Streichen hingibt.« Er lächelte plötzlich, was seinem Gesicht einen fast engelhaften Ausdruck verlieh. »So, und jetzt lass uns mal einen Blick auf die Probe werfen, die du mitgebracht hast.«
Sherlock folgte ihm durch die Eingangshalle in einen anderen Raum. Die Wände waren mit Büchern bedeckt, und vor dem Fenster – dort, wo es am hellsten war – stand ein riesiger Schreibtisch. Mitten zwischen wild verstreuten Papierbögen, Zeitschriften und einem Kerzenleuchter mit brennender Kerze sah Sherlock ein Mikroskop, das auf einem Blatt grünem Löschpapier stand.
Professor Winchcombe setzte sich auf einen mit Leder überzogenen Stuhl an den Schreibtisch und forderte Sherlock mit einer Geste auf, sich ebenfalls einen Stuhl zu holen und neben ihm Platz zu nehmen. Er zog einen unbeschriebenen Pergamentbogen aus einer Schublade und legte ihn auf das Löschpapier neben das Mikroskop. Dann schlitzte er vorsichtig die Umschlagklappe mit einem Brieföffner auf und schüttete den Inhalt auf den Pergamentbogen. Innerhalb weniger Sekunden hatte er ein Häufchen gelben Pulvers vor sich. Mit der Spitze des Brieföffners nahm er ein paar Pulverkörnchen auf und platzierte sie auf eine gläserne Platte, die bereits auf dem Mikroskoptisch – der flachen Platte unter dem Objektiv – eingespannt war.
Er justierte einen Spiegel so unter dem Mikroskoptisch, dass dieser das Kerzenlicht
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