Young Sherlock Holmes 1
vorgehen würden.
Außerdem, so wurde ihm bewusst, war das wohl die einzige Möglichkeit herauszufinden, was da vor sich ging.
Obwohl ihm das Herz bis zum Hals klopfte, gelang es Sherlock, eine ruhige, ja sogar gelangweilte Miene an den Tag zu legen, als er auf die Tür zuging. Die beiden Diener traten zurück, um ihn durchzulassen.
Die Tür führte auf einen weiten, opulent geschmückten Korridor hinaus, der in satten Rot- und Violetttönen gehalten war. In die Tapete war ein markantes Wappen eingewebt, das als Stickmotiv auch auf den Samtvorhängen zu sehen war.
Einer der Diener geleitete Sherlock eine breite Treppe hinab, während der andere ihm auf den Fersen folgte. Bis auf Sherlocks Schritte, die von den weißen Marmorstufen widerhallten, war kein Laut zu hören. Denn die Schuhe der Diener waren umwickelt und erzeugten kaum mehr als den Hauch eines Scharrens.
Am Fuß der Treppe angekommen, führte der erste Diener Sherlock auf eine geschlossene Tür zu, die sich neben einem wuchtigen Teakholzschrank befand. Er zog die Tür auf und bedeutete Sherlock mit einer Geste hindurchzugehen.
Mit einem dumpfem, endgültig klingendem Ton schloss sich die Tür hinter ihm.
Der Raum, in dem er nun stand, war groß, kalt und lag fast vollständig im Dunkeln. Sämtliche Fenster waren mit dicken Vorhängen bedeckt. Lediglich ein paar wenige, diagonal verlaufende Lichtstrahlen durchdrangen die Finsternis, und in ihrem spärlichen Licht konnte Sherlock unmittelbar vor sich gerade eben noch die vorderen Konturen eines riesigen Holztisches erkennen, vor dem ein massiver Stuhl stand. Alles andere war im Dunkeln verborgen, mit Ausnahme einiger glitzernder Flecken, bei denen es sich um metallene Gegenstände handeln mochte, die an den Steinwänden hingen.
Es schien offensichtlich, was man von ihm erwartete. Er spürte, wie ihm vor Nervosität und Anspannung Schweißperlen den Nacken hinabrannen, als er auf den Stuhl zuging und sich setzte.
Eine ganze Weile herrschte absolute Stille. Nur das rasche Schlagen seines Herzens dröhnte in seinen Ohren. Er strengte die Augen an, um die Dunkelheit zu durchdringen. Aber außer der Tischfläche unmittelbar vor ihm war nichts zu erkennen.
Doch dann, ganz allmählich, begann er ein feines Geräusch wahrzunehmen: ein rhythmisches Knarren und Knarzen, ähnlich wie es die Takellage eines Schiffes erzeugt, das von den Wellen irgendeines imaginären Ozeans hin- und hergeworfen wird. Das Geräusch schien an- und abzuschwellen. Fast so, als würde eine schwache Brise in regelmäßigen Abständen in ein Leinensegel fahren und an nassem Tauwerk zerren, um es dann sogleich wieder fahren zu lassen. Er kam einfach nicht darauf, um was es sich dabei handelte. Er konnte doch unmöglich auf einem Schiff sein? Der Blick vorhin aus dem Zimmerfenster hatte ihm gezeigt, dass er sich an Land befand, und der Boden unter ihm hob und senkte sich nicht. Was also war das für ein Geräusch?
»Du warst im Lagerhaus.« Die Männerstimme, die aus der Dunkelheit von der anderen Tischseite her zu ihm drang, war kaum mehr als ein Flüstern. Sherlock meinte, die Spur eines Akzentes herausgehört zu haben – der Buchstabe »H« im Wort »Lagerhaus« hörte sich irgendwie fast verschluckt an –, doch er kam einfach nicht darauf, aus welchem Land der Sprecher stammen könnte. »
Warum
warst du im Lagerhaus?«
»Wer sind Sie?«, fragte Sherlock entschieden, wobei er eine großspurige Entschlossenheit in seine Stimme legte, die er eigentlich überhaupt nicht empfand.
»
Warum
warst du im Lagerhaus?«, beharrte die Stimme. Sherlock musste angestrengt hinhören, um die Worte bei dem Geknarre und Geknarze im Hintergrund zu verstehen.
»Mein Onkel wird sich Sorgen um mich machen«, polterte Sherlock. »Sie werden Suchmannschaften ausschicken.« Er wusste nicht, ob das stimmte, aber es kam ihm schlau vor, das zu sagen. Vielleicht würde er seinen mysteriösen Befrager damit aus dem Konzept bringen.
»Ich werde dich nur noch einmal fragen. Und dann wirst du die Konsequenzen tragen müssen. Also,
warum
warst du im Lagerhaus?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
Etwas kam aus der Dunkelheit auf ihn zugeschossen: etwas Dünnes, Schwarzes, das wie eine zustoßende Kobra vorschnellte und ihn an der rechten Wange traf, bevor es sich gleich darauf wieder in die Finsternis zurückzog. Er zuckte zusammen und spürte noch einen winzigen Augenblick, ehe ihm der Schmerz wie ein Messerstich ins Fleisch fuhr, wie ihm das Blut
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