Young Sherlock Holmes 2
seinen Angreifer, um damit die Klinge abzublocken. Doch als der Lauf in sein Gesichtsfeld glitt, hatte er plötzlich eine Idee. Mit einer raschen Aufwärtsbewegung rammte er die Gewehrmündung direkt in Gilfillans rechtes Auge.
Sein Gegner stieß einen gellenden Schrei aus und wankte zurück. Er hatte die linke Hand aufs Gesicht gepresst, und zwischen den Fingern strömte Blut hervor. Sherlock hatte eigentlich damit gerechnet, dass er kampfunfähig zu Boden gehen würde. Aber stattdessen fixierte er Sherlock nun mit dem intakten Auge und stieß einen weiteren Schrei aus. Ein markerschütterndes, hasserfülltes Kreischen, das vom Wald auf dem gegenüberliegen Flussufer zurückgeworfen wurde und dort einen Schwarm Tauben aufscheuchte.
Die Hand mit dem Messer vor sich ausgestreckt kam er auf Sherlock zugetaumelt. Sherlock, der immer noch das Gewehr in Händen hielt, packte die Waffe am Lauf, holte aus und ließ den Kolben auf Gilfillans Kopf niedersausen. Er traf genau auf die Kopfbandage, und die Wucht des Aufpralls fuhr ihm durch den ganzen Körper. Gilfillan ging mit der Grazie eines achtlos vom Karren geworfenen Maissacks zu Boden.
Halb in der Erwartung, dass der Mann sich wieder aufrappeln und einen erneuten Versuch starten würde, beobachtete Sherlock ihn einige Augenblicke. Aber sein Gegner lag einfach nur völlig regungslos da, sah man einmal von dem Brustkorb ab, der sich langsam hob und senkte. Soweit Sherlock es von seiner Position aus sehen konnte, klaffte dort, wo früher einmal das rechte Auge des Banditen gewesen war, nur noch ein roter Krater. Frisches Blut sickerte durch die Bandage, und Sherlock konnte regelrecht dabei zusehen, wie sie sich hob, während das Fleisch darunter anschwoll.
Der Mann kam Sherlock fast wie ein übernatürliches Wesen vor: gleichgültig nicht nur gegenüber Schmerzen, sondern sogar Verletzungen, die einen normalen Menschen umhauen würden. Der Atem brannte Sherlock in der Brust, während er darauf wartete, dass Gilfillan wieder auf die Beine kommen würde. Waren etwa alle Amerikaner so?, fragte er sich. Hatte das etwas mit diesem Pioniergeist zu tun, von dem er gehört hatte? Ein Teil von ihm wollte vortreten und das Gewehr noch ein paar Mal auf den Schädel des Mannes krachen lassen, um sicherzugehen, dass er sich nie wieder bewegen würde. Aber Sherlock war sich nicht ganz im Klaren darüber, ob dieser Teil von ihm tatsächlich nur Angst davor hatte, dass Gilfillan wieder zu Bewusstsein kam, oder ob er vielleicht einfach nur Rache wollte. Rache dafür, was er mit Amyus Crowe gemacht hatte. Und dafür, was er mit ihm vorgehabt hatte. Doch nach einer Weile ließ er die Waffe sinken. Er würde niemanden töten. Jedenfalls nicht vorsätzlich.
Gilfillan würde sich eine Weile nicht mehr regen. Sherlock entfernte er sich ein paar Schritte, jedoch ohne den Blick von ihm abzuwenden. Dann hörte er Crowes Pferd hinter sich und drehte sich um.
Amyus Crowe lag ein paar Meter weiter auf der Erde. Im roten Licht der Abenddämmerung schien das Blut auf seiner Stirn fast mit dämonischer Intensität zu leuchten. Virginia kniete neben ihm.
»Ist er …?«, begann Sherlock, doch er brachte es nicht über sich, die Frage zu beenden.
»Er … atmet noch«, antwortete Virginia mit stockender Stimme, wobei sich ihr amerikanischer Akzent noch stärker bemerkbar machte als gewöhnlich.
Sie langte in eine Tasche und holte ein kleines Leinentüchlein hervor, wahrscheinlich ihr Taschentuch. Sie wollte damit gerade die Stirn ihres Vaters abtupfen, als Sherlock es ihr behutsam aus der Hand nahm.
»Ich werde es im Fluss anfeuchten«, sagte er.
Dankbar nickte sie.
Er rannte zu der Stelle hinüber, wo Gilfillan bei seinem Sturz die Schneise ins Schilf gepflügt hatte. Nachdem Sherlock sich so dicht ans Wasser vorgewagt hatte, wie es irgend möglich war, ohne hineinzufallen, tränkte er das Taschentuch und kehrte zu Amyus Crowe zurück. Virginia hatte mittlerweile Crowes Arme und Beine ausgestreckt, so dass er nun in einer normaleren Haltung und nicht mehr so verrenkt dalag wie nach dem Sturz vom Pferd. Als Sherlock sich neben ihr niederkniete, stellte er fest, dass Crowes Brustkorb sich in regelmäßigen Atemzügen hob und senkte und die Augenlider flatterten. Es kam ihm vor wie Stunden, seitdem Crowe vom Pferd gestürzt war, aber wahrscheinlich waren höchstens ein paar Minuten vergangen. Der Kampf mit Gilfillan hatte nicht lange gedauert, war aber so intensiv und heftig gewesen, dass er
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