Young Sherlock Holmes 2
sind alle noch am Leben.«
»Ich konnte ja nicht ahnen, was passieren würde«, sagte Mycroft, als Sherlock von Sandias Rücken glitt. »Ich habe mehrere Handlungsoptionen gesehen, aber ich war nicht sicher, welche die beste wäre.«
»Hättest du nicht eigentlich längst deinen Zug nehmen müssen?«, fragte Sherlock.
Mycroft zuckte die Achseln. »Wenn nötig, finde ich schon ein komfortables Hotel für die Nacht.«
»Aber werden deine Vorgesetzten nicht verärgert sein, wenn du morgen nicht zur Arbeit erscheinst?«
Mycroft runzelte die Stirn, als ob die Vorstellung, Vorgesetzte zu haben, ihm reichlich merkwürdig vorkam. »Jaa«, antwortete er nachdenklich und mit gedehnter Stimme. »Vermutlich.« Doch gleich darauf hellte sich seine Miene schon wieder auf. »Allerdings könnte das, was hier geschehen ist, direkte Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen haben, womit die Sache in meinen Zuständigkeitsbereich fällt. Aber falls es nötig sein sollte, könnte ich auch jederzeit einen Sonderzug anfordern, um über Nacht zurück nach London zu kommen.«
Völlig perplex starrte Sherlock ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »
So was
kannst du machen?«
»Bis jetzt musste ich das noch nie. Aber ja, ich denke, mein Aufgabenbereich würde mir in der Tat gelegentlich so einen Luxus erlauben. Und nun erzähl, was passiert ist.«
Sherlock und Virginia halfen Amyus Crowe vom Pferd, und die vier begaben sich nach drinnen, wo Sherlock seinem Bruder alles, was sich seit ihrem Aufbruch aus dem Cottage ereignet hatte, berichtete. Den immer noch ohnmächtigen Gefangenen ließen sie währenddessen draußen gefesselt am Pferd hängen. Virginia steuerte zu Sherlocks Bericht einige Details bei, die er vergessen hatte, und als er von seinem Kampf mit Gilfillan erzählte, spürte er, wie sich ihre auf seinem Arm ruhende Hand verkrampfte. Auch Mycroft zuckte wiederholt entsetzt zusammen, als er hörte, wie knapp Sherlock mehrere Male dem Tod entronnen war.
»Somit tappen wir hinsichtlich der besten Vorgehensweise vorerst im Dunkeln«, stellte Mycroft schließlich fest, als alle es sich mit einem Getränk bequem gemacht hatten. »Solange euer Gefangener noch nicht bei Bewusstsein ist, sind wir auf jedes bisschen Information angewiesen, über das wir verfügen. Die Zeit ist gegen uns.«
»Ich könnte ihn wecken«, schlug Crowe mit leiser Stimme vor. »Und eine ruhige Unterhaltung unter vier Augen mit ihm führen. Wie unter zivilisierten Menschen.«
»Eine gewaltsame Befragung ist keine Option«, warnte Mycroft. »Der Mann mag vielleicht ein in mindestens zwei Ländern gesuchter Verbrecher sein, aber solange er nicht von einem ordentlichen Gericht einer Straftat überführt worden ist, hat er das Recht auf eine menschenwürdige Behandlung. Und selbst dann ist er kein Freiwild, das von irgendeiner Amtsperson grob behandelt werden darf. Großbritannien als eines der ältesten und die USA als eines der jüngsten zivilisierten Länder haben die Pflicht, dem Rest der Welt mit gutem Beispiel voranzugehen. Wenn wir barbarisch handeln, haben wir kein Recht, andere vom barbarischen Handeln abzuhalten, und die Welt würde in Anarchie versinken.«
»Selbst wenn Höflichkeit dazu führt, dass jemand, den wir beschützen sollten, verletzt oder getötet wird?«, fragte Crowe.
»Selbst dann«, bekräftigte Mycroft. »Wir müssen unsere moralische Integrität unbedingt wahren, ganz gleich was uns dazu verleiten mag, uns in den Morast der Ungerechtigkeit hinabzubegeben.«
»Ich habe eine Idee«, platzte es aus Sherlock heraus. In der Tat schwirrte ihm da etwas im Kopf herum. Allerdings war das Ganze noch so vage, dass er die volle Tragweite der Idee erst weiter durchdenken musste.
»Schieß los«, forderte Mycroft ihn auf. »Wenn sie Mr Crowe davon abhalten kann, unserem Gefangenen die Fingernägel mit der Drahtzange zu ziehen, bin ich voll und ganz dafür.«
»Der Mann ist aus der Kutsche gesprungen, um uns aufzuhalten. Und zwar in dem Moment, als es so aussah, als würden wir die Kutsche abfangen und ihre Flucht aus England verhindern.«
»Korrekt«, knurrte Crowe.
»Nach dem zu schließen, was er zu mir gesagt hat, wollte er den anderen ein Telegramm schicken, um ihnen mitzuteilen, ob er Erfolg hatte oder gescheitert ist.«
»Verstehe«, sagte Mycroft.
»Aber wenn er kein Telegramm schickt, wenn also am Reiseziel kein Telegramm auf sie wartet, werden sie davon ausgehen müssen, dass wir ihn überwältigt haben und er deswegen
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