Young Sherlock Holmes 2
hast dazu keine Energie gehabt, und ich habe keinen Sinn darin gesehen. Aber das macht auch nichts. Ich konnte dich immer um Rat fragen, und stets warst du für mich da. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich daran jemals etwas ändern wird. Wenn ich einmal erwachsen bin, möchte ich auch so sein wie du: erfolgreich, bedeutend und selbständig. Du hast mich nie im Stich gelassen, und das wirst du auch niemals tun.«
Mycroft sah ihn an und lächelte. »Wenn du erst einmal erwachsen bist«, sagte er, »wirst du schon deinen Weg machen. Einen Weg, wie ihn noch niemand auf der Welt zuvor gemacht hat. Ich seh es schon vor mir: Eines Tages werde ich zu
dir
kommen, um dich um Rat und Hilfe zu bitten, und nicht umgekehrt. Aber ungeachtet dessen, was du eben alles gesagt hast, habe ich trotzdem einfach nur tatenlos dagestanden, während du in Gefahr warst.«
Sherlock schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, dass überall Gefahr lauert. Wohin man auch geht. Und immer hat man drei Möglichkeiten: Man kann durchs Leben spazieren und die Gefahr einfach ignorieren, sich hinter dicken Mauern vor ihr verstecken oder aber geradewegs auf sie zumarschieren, sie herausfordern und das Risiko auf sich nehmen, dass sie sich von ihrer übelsten Seite zeigt. Entscheidet man sich für die erste Möglichkeit und ignoriert die Gefahr, wird man irgendwann von ihr überrumpelt. Wählt man die zweite Möglichkeit und versteckt sich vor ihr, verbringt man seine ganze Zeit damit, sich im Dunkeln zu verkriechen, während die Welt draußen an einem vorbeizieht. Die einzige logische Konsequenz ist, sich für die dritte Möglichkeit zu entscheiden, also der Gefahr entgegenzutreten. Je mehr man sich an die Gefahr gewöhnt, desto besser lässt sich mit ihr umgehen.«
Mycroft lächelte, und einen Augenblick lang konnte Sherlock hinter den Speckfalten, die Mycrofts massige Gestalt umrahmten, wieder den Jungen erkennen, der sein Bruder einst gewesen war. »Ich sammle Informationen und häufe Wissen an«, sagte er mit sanfter Stimme. »Aber du, du hast so etwas wie Weisheit entwickelt, und der Tag wird kommen, da jedermann auf der Welt deinen Namen kennt.«
»Und außerdem«, sagte Sherlock, bemüht seinen Bruder weiter aufzuheitern, »hab ich gerade die schönste Zeit meines Lebens hinter mir. Hätte mir jemand erzählt, dass ich noch vor Ende der Sommerferien lernen würde zu reiten oder dass ich einen Kampf im Boxring erleben, über den Ärmelkanal rudern und ein Duell auf Leben und Tod ausfechten würde, dann hätte ich wohl einfach nur gelacht. Ich wette, einen Drachen steigen zu lassen und ein Picknick zu machen ist das Aufregendste, was die anderen Jungen auf meiner Schule unternommen haben. Aber trotzdem glaubt ein Teil von mir immer noch, dass ich plötzlich aufwachen und feststellen werde, dass alles nur ein Traum gewesen ist.«
Mycrofts Blick schweifte kurz zu Virginia hinüber, die immer noch in der Tür stand und auf die Rückkehr ihres Vaters wartete. »Und wie ich vermute, gibt es noch andere positive Faktoren«, sagte er.
»Was meinst du damit?«, fragte Sherlock, dem es plötzlich etwas unwohl in seiner Haut wurde.
»Ich meine den Reiz, den eine angenehme Gesellschaft haben kann.« Mycroft wurde plötzlich nachdenklich. »Ich bin ein … einsamer Mann«, fuhr er fort. »Mit dummen Leuten habe ich nicht viel Geduld, und ich ziehe es vor, meine Zeit alleine mit einem Buch und einer Karaffe Brandy zu verbringen. Nimm dir mich nicht zum Vorbild. Wenn dir Freundschaft – oder, wenn ich es so sagen darf – Zuneigung im Leben begegnen, dann lass dich frohen Mutes darauf ein.«
Sherlocks Stimmung wurde schlagartig getrübt, denn bei Mycrofts Worten musste er wieder an Matthew Arnatt denken, der irgendwo da draußen in der Hand seiner Entführer war. »Es macht mir nichts aus, mich in Gefahr zu begeben«, sagte er mit düsterer Miene. »Aber ich kann es nicht ertragen, wenn meine Freunde in Gefahr sind.«
»Sie treffen ihre eigenen Entscheidungen. So wie du deine triffst«, hob Mycroft hervor. »Für sie gelten die gleichen Regeln. Sie sind keine Marionetten, und du kannst sie nicht behüten. So wie ich dich offensichtlich auch nicht immer beschützen kann. Wenn sie mit dir zusammen sein wollen, werden sie es einfach tun. Sie nehmen das Risiko in Kauf.« Er hob eine Augenbraue. »Und mit Sicherheit hat Matthew mittlerweile herausgefunden, dass es in deiner Gesellschaft weder sicher noch langweilig ist.«
»Wir werden ihn doch retten,
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