Young Sherlock Holmes 2
gewesen sind. Ist fast so, als würde man einem Club angehören, nicht?«
»Warum haben eigentlich so viele Seeleute Tätowierungen?«, fragte Sherlock. »Soweit ich es beurteilen kann, hat jedes Besatzungsmitglied hier eines, und keines gleicht dem anderen.«
Grivens blickte eine Weile aufs Meer hinaus. »Das gehört nicht zu den Dingen, über die wir gerne sprechen, Sir«, sagte er. »Vor allem nicht den Passagieren gegenüber. Verzeihen Sie mir, wenn es sich geschmacklos anhört, aber die Sache ist die, dass im Falle eines Schiffbruchs die Leichen der Seeleute einige Zeit brauchen, bis sie ans Ufer gespült werden – wenn das überhaupt geschieht. Es hat Fälle gegeben, in denen die Leichen nicht identifiziert werden konnten, nicht einmal von den nächsten Angehörigen. Das Salzwasser, das raue Wetter und die Tiefseefische hinterlassen ihre Spuren, wenn Sie wissen, was ich meine. Tätowierungen bleiben allerdings sehr lange erhalten. Eine Tätowierung kann man noch erkennen, auch wenn sich das Gesicht schon aufgelöst hat. Und so hat es angefangen, zum Zweck der Identifizierung. Es gibt uns einen gewissen Trost zu wissen, dass, sollten wir auf hoher See sterben, unsere Familien wenigstens eine minimale Chance haben, uns ordentlich beerdigen zu können.«
»Oh.« Sherlock nickte. »Verstehe. Danke.«
Grivens nickte. »Zu Ihren Diensten, Sir. Werden Sie noch eine Weile hierbleiben?«
»Wohin sollte ich sonst gehen?«
»Dann werde ich später noch mal nach Ihnen schauen und sehen, ob Sie noch etwas brauchen.«
Er entfernte sich, um sich um die anderen Passagiere zu kümmern, und ließ Sherlock nachdenklich zurück. Wenn es dieser Mann war, der ihn heimlich beobachtet hatte – falls er denn überhaupt beobachtet worden war, was ja bloß eine Annahme war, die auf einer flüchtig aus dem Augenwinkel wahrgenommenen Bewegung beruhte –, warum war es dann für ihn so wichtig zu wissen, ob Sherlock hier an Deck bleiben würde? Wollte der Steward etwa Sherlocks Kabine nach Hinweisen darüber durchsuchen, wie viel er über Booth und seine Männer wusste? Oder beabsichtigte er, Amyus Crowe und Virginia nachzuspionieren? Gleich wie die Antwort auch lauten mochte, Sherlock konnte unmöglich länger bleiben. Rasch erhob er sich und eilte übers Deck zu seiner Kabine hinunter.
Als er dort ankam, stand die Tür einen Spaltbreit offen. Durchsuchte der Steward etwa die Kabine bereits? Oder war es nur Amyus Crowe?
Sherlock näherte sich und versuchte, vorsichtig durch den Spalt zu blicken, um zu sehen, was da drinnen los war. Sollte es Grivens sein, würde er Amyus Crowe holen und ihm berichten, was hier vor sich ging.
Doch plötzlich stieß ihm etwas hart ins Kreuz, und er stolperte nach vorne in die Kabine. Ehe er sich umdrehen konnte, schickte ihn ein weiterer Stoß endgültig zu Boden. Zum Glück gelang es ihm im Fallen, noch schnell den Kopf zur Seite zu drehen, bevor er damit auf den Kojenrand schlug. Allerdings bewahrte ihn das nicht davor, dass sein Gesicht beim Sturz über den Teppich schrammte. Ohne auf den brennenden Schmerz zu achten, drehte er blitzschnell Kopf und Oberkörper herum, so dass er zum Kabineneingang blicken konnte.
Wo Grivens gerade die Tür hinter sich schloss. Seine blassblauen Augen wirkten plötzlich kalt und hart wie Murmeln.
»Du hältst dich wohl für besonders schlau, was?«, blaffte er. Sherlock stockte der Atem angesichts der abrupten Verwandlung, die der eben noch unterwürfige Steward durchgemacht hatte. »Ich hab schon bessere Männer als dich in Stücke gerissen. Dachtest wohl, ich merke nicht, dass du mir folgst? Ich hab gleich kapiert, dass du ein Auge auf meine Tätowierung geworfen hast. Und ich konnte es dir auch sofort ansehen, dass du sie von gestern wiedererkannt hast, als ich euch beobachtet habe. Also habe ich dich hierher gelockt und dir aufgelauert.«
»Um was zu tun?«, fragte Sherlock. Er hatte Probleme, richtig Atem zu holen, so verdreht wie er auf dem Boden lag.
»Um dich vom Schiff zu befördern. Dich und danach die anderen beiden.«
»Vom Schiff befördern?« Sherlocks Verstand kam nicht so schnell hinterher. »Sie meinen, uns über Bord zu werfen? In den
Atlantik
? Aber es wird auffallen, dass wir fehlen!!!«
»Eventuell wird der Kapitän sogar kehrtmachen, mit Volldampf zurückfahren und nach euch suchen. Aber das wird nichts nützen. In dem Wasser werdet ihr nicht einmal eine halbe Stunde überleben.«
Sherlocks Gedanken rasten, während er fieberhaft
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