Young Sherlock Holmes 4
sie was zuleide tun!«
»Sie ist mit einem kriminellen Bandenführer verwandt«, sagte Crowe. »Ich vermute mal, die Polizei hat nur einen Blick auf ihren Familienstammbaum geworfen und sie gleich ins Gefängnis verfrachtet.«
Macfarlane erhob sich, kam vom Podest herunter und baute sich direkt vor Crowe auf. Auge in Auge standen sich die beiden gegenüber, zwei gleich große Männer von eindrucksvoller Statur und mit wilder Haarmähne. Der einzige Unterschied zwischen ihnen bestand darin, dass Gahan Macfarlanes Haar nicht weiß, sondern schwarz war.
»Sie ist unschuldig«, sagte er mit leiser Stimme. Die Worte fielen in die erwartungsvolle Stille wie Steine in einen still daliegenden See. »Sie hat die Laufbahn, die ich eingeschlagen habe, immer gehasst. Sie ist ein gottesfürchtiges Mädchen, und nichts könnte daran jemals etwas ändern.«
»Manchmal passieren Dinge eben«, sagte Crowe ebenso leise. »Vielleicht hat dieser Sir Benedict Ventham sie angegriffen, und sie musste sich schützen.«
»Sie hat mir geschrieben.« Macfarlanes Gesicht zeigte keinerlei Regung. Er starrte Crowe geradewegs ins Gesicht – in stummer Herausforderung, der riesige Amerikaner möge mit seiner Darlegung, warum seine Schwester doch schuldig sein könnte, fortfahren. »Sie hat bei der Bibel geschworen, dass sie nichts mit der Sache zu tun hat und dass sie seinen Tod ebenso beklagt, wie sie den Tod unseres lieben Vaters beklagt hat. Und ich glaube ihr.«
»In dem Fall«, ergriff Sherlock mit lauter Stimme das Wort, »habe
ich
Ihnen ein Geschäftsangebot zu unterbreiten.«
15
Einen langen Moment starrte Macfarlane Crowe weiter ins Gesicht, als hätte er Sherlocks Worte nicht gehört. Dann wandte er schließlich seinen Kopf, bis er Sherlock direkt in die Augen sah. »Rede weiter, Jungchen. Überrasch mich.«
»Wenn wir den Namen Ihrer Schwester reinwaschen könnten, beweisen könnten, dass sie unschuldig ist – dann lassen Sie uns gehen. Sie liefern uns nicht Bryce Scobell aus.«
Sherlock vernahm, wie sich ungläubiges Gemurmel im Raum breitmachte.
Crowe hatte sich ebenfalls zu Sherlock gewandt und blickte ihn an. Im Gegensatz zu Macfarlanes ruhiger, fast feierlicher Miene hatte er die Stirn gerunzelt, als würde er sich fragen, was Sherlock im Schilde führte. Der allerdings musste sich eingestehen, dass er sich selbst nicht ganz sicher war.
»Nur damit ich dich richtig verstehe«, sagte Macfarlane langsam. »Du willst … was? Den Mordfall
untersuchen
? Nach Dingen stöbern, die die Polizei übersehen haben könnte? Und du bist ernsthaft der Meinung, du kannst genügend Beweise sammeln, um die Polizei davon zu überzeugen, dass meine kleine Aggie unschuldig ist?«
Sherlock zuckte mit den Schultern. »Was haben Sie zu verlieren? Wenn es uns nicht gelingt, ihre Unschuld zu beweisen, liefern Sie uns Bryce Scobell aus und kassieren ihr Blutgeld. Haben wir Erfolg und sie wird freigelassen, bekommen Sie Ihre Schwester zurück. So oder so gewinnen Sie.«
Macfarlane lächelte, als würde ihn Sherlocks Selbstvertrauen amüsieren. »Du bist noch ein wenig jung für einen Bullen, Junge.«
Sherlocks Gedanken schweiften zu den Ereignissen vor ein paar Monaten zurück, als man seinen Bruder Mycroft des Mordes angeklagt hatte. Die Polizei hatte keinerlei Interesse daran gehabt, das Verbrechen zu untersuchen: Sie hatten einen Verdächtigen auf dem Silbertablett serviert bekommen und genügend Beweise für eine Verurteilung. Es war Sherlock gewesen, der den wahren Mörder aufgespürt hatte.
»Die Polizei sieht nur das, was sie sehen will«, sagte er mit bitterer Stimme. »Sie sieht das, was am
leichtesten
für sie ist. Ich lasse mich nicht von dem Offensichtlichen ablenken. Ich sehe Dinge, die die Polizei nicht sehen kann.«
Macfarlane starrte ihn wortlos an. In seiner Miene spiegelte sich eine Mischung aus geringschätziger Verachtung und vager Hoffnung wider. Denn etwas an Sherlocks Stimme schien eine Wirkung auf ihn auszuüben.
»Was das anbelangt, so glaube ich, dass du es kannst«, sagte er schließlich. »Aber es bedarf mehr als das, bevor ich dich freilasse. Dein Angebot könnte einfach nur ein Kniff sein, erst mal von hier wegzukommen und dann abzuhauen.«
»Nicht, wenn Sie immer noch meine Freunde gefangen haben«, hob Sherlock hervor. Er blickte sich um und hielt verzweifelt nach etwas, irgendetwas, Ausschau, womit sich Macfarlane überzeugen ließ, dass er tatsächlich zu dem in der Lage war, was er behauptet
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