Young Sherlock Holmes 4
Straßenseite. Auf einer kleinen, dreieckigen Grasfläche neben einer Scheune weidete ein Pferd. Es war mit einer langen Leine an einem Zaun angebunden.
»Das ist Sandia«, sagte Matty.
»Bist du sicher?«, fragte Sherlock.
»Sehr sicher.«
»Zumindest wissen wir jetzt, dass mit ihm alles in Ordnung ist. Virginia hat vermutlich am Bahnhof jemanden gefunden, der gegen Bezahlung auf ihn aufpasst. Sie müssen rechtzeitig dahintergekommen sein, dass jemand hinter ihnen her ist. Wie ich Mr Crowe kenne, wird er es geschafft haben, seinen Verfolgern stets einen Schritt voraus zu bleiben.« Plötzlich fühlte sich Sherlock schon erheblich besser.
»Fahren wir jetzt gleich weiter nach Ash Wharf?«
Sherlock dachte einen Augenblick lang nach. Es gab einen Punkt, an dem weitere Hinweise lediglich das bestätigten, was man ohnehin schon wusste. Seine Schlussfolgerungen waren hinreichend zufriedenstellend. »Nein, lass uns sehen, dass wir Rufus Stone auftreiben. Wir müssen ihm erzählen, was wir vorhaben, und danach mit meiner Tante und meinem Onkel reden.« Er musste an das denken, was sich zuvor an diesem Tag bereits alles ereignet hatte. »Ich glaube, wir können noch mit genügend Wohlwollen rechnen, dass sie keine Einwände erheben werden, wenn ich für ein paar Tage verreise – vor allem, wenn sie wissen, dass Rufus Stone dabei ist.«
Matty drehte sich um und wollte gehen, aber Sherlock streckte eine Hand aus und hielt ihn fest. Mit fragendem Blick wandte Matty sich zu ihm um.
»Was ist?«
Sherlock zögerte und überlegte, wie er die Frage vorbringen sollte. Überlegte,
ob
er sie überhaupt vorbringen sollte. »Das, was du da vorhin gesagt hast … Über Freundschaft, die einfach über Bord geht, wenn die Zeiten hart werden und das Geld knapp … Hast du das wirklich so gemeint?«
Matty wandte den Blick ab. Für einen kurzen Moment presste er die Lippen aufeinander, bevor er antwortete. »Ich hatte früher schon mal Freunde«, sagte er leise. »Jetzt habe ich sie nicht mehr. Sie haben mich verlassen. Einer nach dem anderen, wie es ihnen passte. So hab’ ich gelernt, wie die Dinge laufen.«
»Nicht bei mir«, sagte Sherlock. »Und nicht bei Amyus Crowe und Virginia.«
Zögernd nickte Matty. »Zumindest hast du mich davon überzeugt, dass sie nicht gehen wollten. Das ist schon mal ein Anfang. Und jetzt komm. Wir verlieren Zeit.«
Sie fanden Rufus Stone dort, wo Sherlock ihn vermutet hatte: in seiner Unterkunft auf dem Dachboden, wo er auf seiner Violine übte. Die beiden Jungen konnten bereits leise auf der Straße hören, dass er etwas spielte, das sich wie ein wilder Tanz anhörte. Als sie die Stufen hinaufstiegen, wurde die Musik lauter und lauter, und kaum hatten sie den Dachboden betreten, war es, als würde sie den gesamten Raum durchdringen, in wilden wirbelnden Mustern, zu denen sich in der Mitte die schlaksige Gestalt Rufus Stones im Einklang bewegte, während er gleichzeitig wie ein Verrückter mit dem Bogen die Saiten bearbeitete. Falls er sie kommen hörte, so ließ er es sich nicht anmerken. Mit geschlossenen Augen entlockte er seinem Instrument immer verwegenere Tonfolgen, bis er das Stück schließlich mitten in einem letzten wilden musikalischen Feuerwerk jäh beendete. Für Sekundenbruchteile schien die Luft wie Gelee zu erzittern, ehe alles wieder war wie zuvor.
»Verdammt tolles Lied«, sagte Matty voller Anerkennung.
»Sehr freundlich«, bedankte sich Stone. Er drehte sich um und grinste die beiden an. »Obwohl ich sagen muss, dass es sich sogar noch besser um Mitternacht an einem Lagerfeuer im Wald anhört. Das Problem ist nur, dass, je älter ich werde, ich umso mehr den Komfort einer warmen, trockenen Behausung zu schätzen scheine.« Er blickte von einem Jungen zum anderen. »Es ist etwas passiert, oder? Erzählt!«
Sie begannen Stone alles zu berichten, wobei Sherlock sich auf die Fakten konzentrierte und Matty die Lücken mit lebhaften Beschreibungen ausmalte. Während sie erzählten, wurde Stones Gesicht immer grimmiger. Als Sherlock am Ende verkündete, was genau sie beide nun vorhatten, stand er einen Augenblick lang nur da und dachte nach.
»Ihr beide habt wirklich vor, nach Edinburgh zu fahren?«, fragte er schließlich.
»Ja«, antwortete Sherlock.
»Und es gibt nichts, was ich sagen könnte, um euch von eurem Plan abzubringen?«
»Nö«, erwiderte Matty.
Stone seufzte. »Dann ist es vermutlich gut, dass ich immer eine gepackte Tasche an der Tür bereitstehen habe.
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