Young Sherlock Holmes 4
die merkwürdigerweise wie Rasierschnitte aussahen, obwohl es in den betreffenden Gesichtsbereichen gar keinen Bartwuchs gab.
Trotz der schmutzverschmierten Scheibe zwischen ihnen war Sherlock doch nahe genug, dass er diese Schnitte nun sehen konnte. Es gab keinen Zweifel: Es
war
Mr Kyte.
Einen scheinbar ewig dauernden Moment lang starrte Kyte ihm in die Augen. Weder lächelte noch nickte er oder ließ sich sonst irgendwie anmerken, dass er erkannt worden war. Nach ein paar Sekunden zog er sich langsam in den Schatten eines Aufbaus auf der Bahnsteigmitte zurück, bei dem es sich offensichtlich um eine Art Verschlag zur Gepäcklagerung handelte.
Sherlocks Herz raste, und bei jedem Atemzug schien die eingeatmete Luft in seiner Brust gegen ein Hindernis zu stoßen.
Er musste Rufus Stone informieren! Und Mycroft! Ob Mr Kytes Anwesenheit nun darauf schließen ließ, dass die Paradol-Kammer in Crowes Verschwinden involviert war, ob sie Sherlock aus Rache folgten, weil er ihre Pläne durchkreuzt hatte, oder ob das Ganze nun kompletter Zufall war – er hatte nicht die geringste Ahnung. Aber Tatsache war, dass Mr Kyte
hier
war, ihn beobachtete,
sie
beobachtete; und das bedeutete, dass sich die Dinge geändert hatten. Die Situation war nicht mehr so wie noch zehn Minuten zuvor.
Das lautstarke Signal der Dampfpfeife riss Sherlock aus seinen Gedanken. Der Zug würde jeden Moment abfahren. Im Bewusstsein, dass weder Rufus Stone noch Matty bisher zurückgekehrt waren, machte er Anstalten, sich von seinem Sitz zu erheben. Aber in diesem Augenblick glitt die Tür des Abteils zur Seite, und Matty trat herein – mit einer Schweinefleischpastete in der Hand.
»Was ist los?«, fragte er. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
»Fast. Wo ist Rufus?«
Matty runzelte die Stirn. »Ich dachte, er wär’ schon wieder hier. Er hat sich ’ne Minute oder so vor mir auf den Weg gemacht.« Er warf die Pastete mit einer Hand in die Luft und fing sie wieder auf. »Hab ’nen Stapel von denen hier an einem Marktstand gleich vor dem Bahnhof entdeckt. Der Kerl, der sie verkauft, hat sich von ’ner Frau ablenken lassen, die vorbeiging. Hat mir gerade genug Zeit verschafft, mir eine zu mopsen.«
»Aber …«, begann Sherlock und hielt dann inne. Jetzt war keine Zeit für Diskussionen. Er schob sich an Matty vorbei, verließ das Abteil und betrat den Gang, der sich über die gesamte Waggonlänge erstreckte. An beiden Enden des Ganges führten Türen nach draußen auf den Bahnsteig. Er rannte zur nächsten und schaute aus dem Fenster.
Auf der gesamten Bahnsteiglänge waren die Passagiere dabei, wieder den Zug zu besteigen, aber von Rufus Stone war keine Spur zu entdecken.
Wieder gab die Dampfpfeife ein ohrenbetäubendes Signal von sich. Innerhalb weniger Augenblicke hatte sich der Bahnsteig geleert, mit Ausnahme des Schaffners, der den Zug entlang nach hinten und vorne blickte und darauf wartete, seine Flagge zu heben.
Sherlock starrte verzweifelt nach links und rechts. Von Rufus Stone war nichts zu sehen. Er wollte auf den Bahnsteig hinabspringen und den Bahnhof nach seinem Freund absuchen. Aber der Zug würde jede Sekunde losfahren. Was, wenn Rufus einfach nur in einen anderen Waggon gestiegen war und in gerade diesem Moment durch den Zug marschierte? Wenn das der Fall war und Sherlock ausstieg, dann wäre er der Vermisste, gestrandet in einem Bahnhof, in dem er im Visier der Paradol-Kammer wäre.
Was aber war, wenn die Paradol-Kammer Rufus Stone geschnappt hatte? Ohne Zweifel hatten Mr Kyte und Stone noch eine Rechnung miteinander offen.
Der Zug fuhr mit einem Ruck an. Die Lokomotive entfernte sich vom Bahnsteig und zog die Waggons hinter sich her. Innerhalb weniger Augenblicke hatten sie den Bahnhof hinter sich gelassen, und bald darauf wich die vorbeiziehende städtische Bebauung auch schon Wiesen und Feldern.
Sherlock kehrte wieder zurück und blieb zunächst vor dem Abteil stehen. Er spähte nach links und rechts den Korridor entlang, in der Hoffnung, Rufus Stone würde auftauchen und in seiner typisch lässigen Art angeschlendert kommen. Nach fünf Minuten musste er sich jedoch eingestehen, dass Stone nicht kommen würde. Er war noch immer im Bahnhof vom Newcastle, vermutlich als Gefangener der Paradol-Kammer.
»Was ist?«, fragte Matty, als Sherlock wieder das Abteil betrat. Sein Schoß war übersät mit Pastetenkrümeln. »Wo ist Mr Stone?«
»Ich glaube, er ist nicht mitgekommen«, erwiderte
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