Ysobel – Das Herz aus Diamant
Kommandos sie wie die Peitsche eines Sklavenhalters. Sie schien nicht einmal genügend Zeit zum Atemholen zu finden, und die dumme Idee eines neuerlichen Ausfluges hinunter an den Strand erledigte sich ganz von selbst. Womöglich sollte sie dem Schicksal dankbar dafür sein, dass es sie auf diese Weise vor einem Fehler bewahrte.
Es lag etwas in ihrer Haltung, das den Herrn von Locronan an seine stolze Mutter erinnerte, die vermutlich nicht damit einverstanden gewesen wäre, dass Dame Thilda seiner Schwester so übel mitspielte. Zum ersten Male, seit sie vor Monaten nach Hause gekommen war, sah er sich gezwungen, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen, und was er erblickte, gefiel ihm keineswegs. Ysobel zeigte zwar nicht mehr jenen gehetzten, tragischen Ausdruck, aber sie machte gleichwohl den Eindruck eines Menschen, der nicht viel Grund zum Lachen findet.
»Lass diese dummen Eimer stehen!«, sagte er unwirsch und winkte einem der Hausknechte, die Behälter fortzutragen. »Du solltest bei Thildas Damen am Stickrahmen sitzen! Dort gehörst du hin!«
Ysobel kräuselte die Lippen und zog spielerisch eine Augenbraue hoch. Ihre Schwägerin hatte sich mit sechs ergebenen Damen aus niederem Adel umgeben. Allesamt waren sie unterwürfig bemüht, ihrer Herrin jeden Wunsch von den Augen abzulesen und den vornehmen Kreis gegen alle Eindringlinge abzuschirmen. Sie teilten natürlich auch Thildas Abneigung gegen die schöne Magd, von der sie nicht wussten, wer sie war. Gratiens Vorschlag hätte sie in kreischende Entrüstung gestürzt.
»Mein Gemahl!«
Dame Thilda rauschte ausgerechnet in diesem Moment über die Treppe herab. Die goldbestickte Schleppe ihres prächtigen, rosenfarbenen Gewandes wischte eine Schneise in das Stroh des Hallenbodens. Zwei ihrer Damen huschten, beträchtlich weniger aufwändig gewandet, wie Schatten neben ihr her. So sehr zur Bedeutungslosigkeit verurteilt, dass sie nicht einmal eine Spur auf dem Boden hinterließen.
»Fort mit dir!« winkte sie Ysobel davon, als sei sie nur ein lästiges Insekt, das es gewagt hatte, sich in ihrer Nähe niederzulassen. »Hast du nichts zu tun, dass du hier Maulaffen feilhältst?«
Gratien zuckte merklich unter der schrillen Stimme seiner Ehefrau zusammen. Trotzdem griff er nach Ysobels Arm und verhinderte, dass sie dem Befehl folgte.
»Waren wir nicht übereingekommen, dass Ysobel Euch persönlich dienen soll?«, erkundigte er sich.
»Als was denn?« Dame Thilda verengte ihre Augen zu schmalen Schlitzen. Allein Ysobels Anblick genügte, um ihr den Tag zu verderben. Es gehörte sich nicht, dass dieses dumme ebenmäßige Gesicht ohne jeden Hauch von Farbe wie durchsichtiges Alabaster aussah. Dass die Augen wie goldener Achat leuchteten und ihr Busen das Gewand fast sprengte. »Für eine Zofe ist sie zu ungeschickt, und bei feinen Nadelarbeiten versagt sie. Überlasst es mir, die Dienstboten einzuteilen, ich verstehe mehr davon.«
Sie winkte ihre Ehrendamen davon und sorgte dafür, dass der Rest des Streits wenigstens nicht vor neugierigen Ohren ausgetragen wurde. Gerade noch rechtzeitig, denn Gratien musste ausgerechnet jetzt einfallen, dass Ysobel schließlich seine Schwester war.
»Das Recht auf den Namen Locronan ist mit ihrem Eintritt in das Kloster verfallen«, erwiderte Dame Thilda daraufhin empört. »Sie ist eine davongelaufene Nonne. Eine alte Jungfer, zu nichts nutze und zu einfältig, um die einfachsten Arbeiten zu verrichten. Wollte ich dich mit der Liste ihrer Unfähigkeiten langweilen, dann hätte ich schon heute Morgen damit anfangen müssen und wäre jetzt noch nicht am Ende! Es ist schlicht ungehörig, dass sie sich hinter Euch versteckt und sich beschwert. Eine Heuchlerin, die nur für Unfrieden sorgt ...«
Je länger die gehässige Rede dauerte, um so mehr lockerte sich Gratiens Griff um Ysobels Arm. Mit den Fingern der anderen Hand rieb er sich die Stirn, auf der bereits die Spuren tief eingegrabener Falten zu sehen waren. Darüber lichteten sich die rotblonden Haare, und Ysobel entdeckte Schweißtropfen auf seiner Haut. Er war das personifizierte Unbehagen. Am liebsten hätte er sich in Luft aufgelöst.
Zwischen Mitleid und Zorn hin und her gerissen, hätte Ysobel ihn einerseits liebend gern heftig getreten, aber ihn auch in den Arm genommen und getröstet. Ob er sich wohl auch manchmal der Zuneigung erinnerte, die ihre Eltern verbunden hatte? Ob er sie mit der Verachtung verglich, die ihm seine Gemahlin entgegenbrachte?
»Sieh sie nur
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