Ysobel – Das Herz aus Diamant
an, stumm und hochnäsig wie immer!«, schimpfte Thilda weiter. »Man kann ihr sagen, was man will, sie träumt und glaubt sich vermutlich im Kloster, wo sie ihre Zeit mit nutzlosen Gebeten vertrödeln konnte! Wenn du nicht eine Gemahlin hättest, die sich um jede Kleinigkeit unter diesem Dach kümmert, würden wir längst verhungert sein!«
Dame Thildas boshaftes Gezeter erstickte Gratiens halbherzigen Versuch, für seine Schwester einzutreten. Ysobel sah, wie sein Blick sich auf den Weinkrug heftete, der auf dem Tisch stand, und zum ersten Male hatte sie Verständnis für seinen Wunsch, der Wirklichkeit zu entfliehen. Er konnte ebenso wenig von Locronan fort wie sie. Sie waren beide auf ihre Art Gefangene dieser zänkischen Furie, die jetzt mit höchster Befriedigung auf die schweigenden Geschwister blickte. Um ihr Regiment zu beenden, hätte man die Burg schon Stein für Stein abtragen und über ihrem dünnen, freudlosen Körper wieder anhäufen müssen.
Die Erkenntnis dieser verzweifelten Lage weckte freilich auch Ysobels Trotz. Weshalb rief Gratien Thilda nicht zur Ordnung? Was hatte dieses Weib ihrem Bruder angetan? Warum wagte er nicht, sie in ihre Schranken zu weisen? Er war ihr Ehemann und vor Gott und den Menschen berechtigt, sie zum Gehorsam zu zwingen. Hätte er sie für ihren Ungehorsam verprügelt, das Recht wäre auf seiner Seite gewesen. Was war geschehen, dass sich auf Locronan die Dinge so absurd verdreht hatten?
»Hört auf, mit ihm herumzuzanken«, fuhr sie aus diesem Zorn heraus ihre Schwägerin an. »Ihr habt nicht das Recht, den Herrn von Locronan wie einen ungehorsamen Knappen auszuzanken!«
Dame Thilda fuhr zurück und starrte Ysobel mit weit aufgerissenem Mund an. Sie hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass Ysobel in stoischem Schweigen auf alle Vorwürfe reagierte, dass der unerwartete Ausbruch sie zu Stein erstarren ließ.
Ysobels unerwarteter Erfolg machte auch Gratien wieder Mut. Er nickte bestätigend und sagte mit zunehmend fester werdender Stimme. »Sie hat recht, meine Liebe, sogar sehr recht! Wir wollen doch nicht vergessen, was sich gehört. Und es gehört sich nicht, dass Ysobel die Arbeit einer Magd tut. Sie gehört unter deine Damen! Gib ihr vernünftige Kleider und sorge dafür, dass sie auch aussieht wie die Demoiselle von Locronan!«
»Die ... die Demoiselle von Locronan ...«, wiederholte Dame Thilda außer sich und sah ihrem Gatten nach, der durch die Halle davonspazierte, als sei er ein Hahn, der soeben seinen Hühnerhof erfolgreich zur Ordnung gerufen hatte. Ein Hahn, der sich rechtzeitig in Sicherheit brachte, ehe die Rebellion ausbrach.
»Duuuu ...« Ihr Zeigefinger schoß auf Ysobel zu, und die Worte flogen wie giftige kleine Pfeile zwischen ihren Lippen heraus. »Pack dich fort! Ich will dich nicht mehr sehen! Und wenn du es wagen solltest, noch ein einziges Mal Widerworte zu geben, dann sorge ich dafür, dass du den Rest deines unwichtigen kleinen Lebens nicht mehr froh wirst. Denke nicht, dass der Herr sich auch nur im Geringsten an seine Worte erinnert, wenn er den nächsten Krug Wein im Wanst hat! In dieser Burg bestimme ich! Über Leben und Tod! Auch über dein Leben und deinen Tod!«
Ysobel wich vor der wütenden Edeldame zurück, als sei sie eine gefährliche Viper. Seltsamerweise zweifelte sie keine Sekunde an der Wahrheit dieser Worte. Diese Frau hätte sogar Mittel und Wege gefunden, Mutter Elissa das Leben zur Hölle zu machen. Mit ihrer Art wäre sie eine würdige Partnerin für Paskal Cocherel gewesen statt für diesen wankelmütigen, trunksüchtigen Edelmann, der seine eigene Schwäche im Wein ertränkte.
»Hinaus!«, kreischte Mathilda de Locronan.
Ysobel folgte dem Befehl, so schnell ihre Füße sie trugen. Nichts wie fort und aus den Augen dieser Megäre, ehe sie ihre Drohungen Wahrheit werden ließ.
4. Kapitel
So bist du also doch gekommen ...«
»Ich ...«
Ysobel verstummte. Ihr Kopf war mit einem Schlag völlig leer. Sie wusste nicht mehr, was sie eigentlich sagen wollte. Der Fremde saß auf dem Kiel eines umgedrehten Fischerbootes und schnitzte mit einem gefährlich wirkenden Dolch an einem Stück Holz. Es war Ebbe, und das Meer war weit zurückgewichen und gab einen Streifen Schlick und Tang frei, gesprenkelt von Steinen und Tümpeln, wo sich Muscheln und Seegras gefangen hatten.
»Du wirst dich verletzen, wenn du nicht auf deine Arbeit siehst«, murmelte sie und vermied eine direkte Antwort auf seine Feststellung.
»Ich kann mit
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