Ysobel – Das Herz aus Diamant
sind leer, Vorräte kaum vorhanden, und Gratien schickt schon längst keine Schiffe mehr auf Handelsfahrt. Die Dame könnte höchstens mit den Seiden und Samten handeln, die ihre Truhen füllen. Mit den Teppichen, die an den Wänden hängen und den Juwelen, die ihre Schatullen zum Überquellen bringen. Aber das würde sie nie tun, dazu ist sie viel zu verliebt in diesen Reichtum, den sie sich auf Kosten ihres Gemahls zusammengerafft hat und mit dem sie prunkt, als wäre es ein persönliches Verdienst. Wenn mich eines wundert, dann nur, woher das Geld kommt, um all diesen Luxus zu erstehen!«
Jos betrachtete Ysobel mit nachdenklichen Augen. »Du meinst, die Dame oder ihr Gemahl haben eine heimliche Einnahmequelle, von der niemand Genaueres weiß?«
»Ich denke ...«
Die junge Frau brach ab und biss sich in die Unterlippe. Eine steile, winzige Falte erschien auf ihrer Stirn. Sie hatte sich bisher keine Gedanken gemacht, aber Jos fasste etwas in Worte, was ihr unbewusst schon lange zu schaffen gemacht hatte. Der Reichtum Locronans hatte auf der Geschicklichkeit ihres Vaters und dem Fleiß und Organisationstalent ihrer Mutter beruht. Sie erinnerte sich noch gut an ihre Kindertage; damals hatte ein ständiges Kommen und Gehen auf der Burg geherrscht. In der Bucht hatten Schiffe geankert, Boote waren hin und her gefahren.
Jetzt gab es nur Fischerkähne im Hafen, und die Burg glich einer Festung, die sich vor der übrigen Welt abkapselte und ihr eigenes Leben führte. Woher bekam Dame Thilda also die Mittel, um sich mit jenem Gepränge zu umgeben, das sie mehr zu interessieren schien als das Wohlergehen ihres Gatten oder die Geburt eines möglichen Erben? Ysobel runzelte die Stirn noch heftiger und schalt sich eine Närrin, dass sie sich diese Fragen noch nie selbst gestellt hatte.
Doch, was interessierte es einen einfachen Fischer, woher der Reichtum der Burg stammte? War es einfach nur Neugier? Unwillkürlich nahm sie Jos ein wenig genauer in Augenschein. Sie versuchte, das stürmische Herzklopfen zu missachten; es fiel ihr schwer, Vernunft zu bewahren, wenn sich seine Lippen zu diesem halb spöttischen, halb zärtlichen Lächeln kräuselten und Bewunderung in seinen unglaublichen Augen aufblitzte.
»Zu welcher Fischerfamilie gehörst du eigentlich?«, erkundigte sie sich in gespielter Gleichgültigkeit. »Ich habe deinen Namen noch nie gehört, aber ich dachte, dass ich die meisten Leute rund um die Bucht kenne ...«
Er brauchte ja nicht zu wissen, dass sie sich längst nicht mehr an alle Namen und Gesichter erinnerte, die zu ihrer unbeschwerten Kinderzeit gehört hatten. Damals hatte sie ihren Vater überallhin begleitet. Sie war über schwankende Planken auf fremden Schiffen herumgeklettert und hatte die vorwitzige Nase in Säcke mit fremdartigen Gewürzen und in Kästchen mit seltsamen Inhalten gesteckt. Damals hatten die Fischer der kleinen Demoiselle von der Burg schimmernde Muscheln geschenkt und sich ehrerbietig vor dem Baron verneigt. Vor Gratien taten sie dies mit Sicherheit nicht mehr. Er rief nur noch Verachtung und keinen Respekt mehr hervor. Verließ er deswegen seine Burg so selten?
»Ich bin erst im vergangenen Herbst an das Delta gekommen«, bekannte Jos gleichmütig. »Ich hatte erfahren, dass es hier viele leere Boote geben soll, weil die Werber auch vor den Fischern nicht haltgemacht haben.«
Eine plausible Erklärung und doch ... Ysobel umfasste die geschnitzte Möwe fester. »Und du ... hast du keine Angst davor, dass sie zurückkommen und dich für die Truppen des Herzogs pressen oder für die eines anderen Heerführers, der meint, dass die Bretagne das richtige Schlachtfeld für ihn wäre?«
»Es ist Frieden!«, behauptete Jos. »Hast du nicht von der großen Schlacht gehört, die im vergangenen September vor Auray geschlagen wurde? Seit dieser Zeit herrscht Jean de Montfort über das Land, und es werden keine Truppen mehr ausgehoben ...«
»Aber das Volk hungert, und die Söldner tyrannisieren noch immer ganze Landstriche«, entgegnete Ysobel.
»Du weißt viel für eine Magd, die kaum die Mauern dieser Burg verlassen hat ...«
»Und du stellst seltsame Fragen für einen Fischer, der sich um seine Arbeit kümmern sollte und nicht um den Reichtum seines Herrn!«
»Gratien de Locronan ist nicht mein Seigneur«, widersprach Jos. »Niemand kann mich gegen meinen Willen unter seine Herrschaft zwingen. Ich bin einer freier Mann und niemandem Rechenschaft schuldig!«
Ysobel unterdrückte
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