Ysobel – Das Herz aus Diamant
dem Dolch umgehen«, entgegnete er ruhig, und Ysobel kam es vor, als meine er damit nicht nur seine Geschicklichkeit beim Schnitzen. »Wieso hast du mich zwei Tage warten lassen?«
»Wieso hast du gewartet?«
»Weil du mir gefällst, schöne Ysobel!«
Doch er wusste selbst, dass er sich damit etwas vormachte. Wie oft hatte er sich in den vergangenen zwei Tagen einen Narren genannt: Was konnte dieses einfache Mädchen schon an sich haben, dass es ihn so beeindruckte? Sie hatte eine verheerende Wirkung auf ihn.
»Du hast mir etwas voraus«, erwiderte sie spröde. »Du kennst meinen Namen. Aber ich habe keine Ahnung, wer du bist ...«
»Niemand von Bedeutung, Mignonne!« Erneut nannte er sie bei dem Kosenamen, was sie sich eigentlich verbitten sollte. »Ein armer Fischer, der von Ruhm und Reichtum träumt und davon, dass ihn eine schöne Fee mit ihrer Gunst auszeichnet. Meine Eltern haben mich Joseph getauft, aber man nennt mich Jos ...«
»Feen findest du im Wald von Brocéliande und nicht zwischen dem Meer und dem Port Rhu«, murmelte Ysobel, die nicht glauben wollte, dass er meinte, was er sagte. »Wenn du ein Fischer bist, solltest du das wissen ...«
Er ließ das Messer sinken und hielt ihr den kleinen Gegenstand hin, an dem er geschnitzt hatte. Ysobel erkannte die meisterlich ausgeführten Linien einer kleinen Möwe, die sie aus runden, dunklen Holzaugen ansah, die er geschickt in die Astmaserungen eingepasst hatte. Es erweckte den Anschein, als würde das Tierchen im nächsten Moment zum Leben erwachen, die Flügel ausbreiten und mit dem Wind davonschweben.
»... aber du bist auch ein Künstler!«, fügte Ysobel bewundernd hinzu, während sie mit der Fingerkuppe die Spuren des Messers berührte.
»Das ist nur ein Zeitvertreib«, winkte er ab und versenkte das Messer in der Scheide an seinem Gürtel. »Ich bin glücklich, wenn es dir gefällt. Möchtest du die Möwe behalten?«
»Ja, gerne, sie ist wunderschön«, sagte sie und barg den geschnitzten Vogel glücklich zwischen ihren Handflächen. Sie wandte ihm ein strahlendes Gesicht zu. »Ich danke dir! Ich habe noch nie etwas so Entzückendes besessen!«
»Hast du denn keinen Gefährten, der dir Geschenke macht, wenn die Händler vorbeikommen? Ein so hübsches Ding wie du verdreht den Burschen in den Dörfern doch reihenweise die Köpfe ...«
»Ich hab’ keine Zeit für solchen Unsinn«, wehrte Ysobel entrüstet ab. »Außerdem herrscht auf der Burg ein strenges Regiment. Dame Volberte würde der Schlag treffen, wenn sie eine der Mägde beim Tändeln erwischte!«
»Ist das die Haushofmeisterin?«, fragte Jos. »Man sagt, sie ist ein Drachen, und die Fischer fürchten sie, wenn sie persönlich zum Einkauf an die Mole kommt. Man macht ihr nur selten etwas recht, und sie will nie den üblichen Preis bezahlen ...«
»Des Teufels Großmutter ist eine liebenswürdige Person gegen sie«, platzte Ysobel heraus. »Dabei ist sie eigentlich nur Dame Thildas Kinderfrau. Zur Haushofmeisterin wurde sie bloß, weil sie die einzige ist, der die Dame traut!«
»Vielleicht auch, weil man auf der Burg offensichtlich keine Kinderfrau benötigt. Der Baron muss ziemlich betrübt sein, dass er immer noch keinen Erben hat. Er ist doch schon seit vielen Jahren verheiratet ...«
»Nur ein Kummer mehr, den er im Burgunder ertränkt«, entgegnete Ysobel bitter und hockte sich auf den Bug des Bootes. Sie grub die bloßen Zehen in den kühlen Sand und vergegenwärtigte sich die jämmerliche Gestalt ihres Bruders, den sie früher so bewundert hatte. »Aber für die Kinder ist es sicher gut. Sie wären keine guten Eltern. Alle beide nicht ...«
»Du meinst, der Baron trinkt zu viel?« Jos beugte sich neugierig vor. »Tratscht das Gesinde darüber?«
Ysobel zuckte mit den Achseln. »Es ist kein Geheimnis. Meistens ist er schon mittags betrunken ...«
»Aber wer ...«
Sie ahnte, was er fragen wollte. »Wer das Regiment führt? Die wahre Herrin der Burg ist Dame Thilda ...«
»Du machst dich lustig über mich ...«
»Nein, keineswegs!«, beharrte Ysobel und entdeckte, wie sehr es sie erleichterte, endlich mit jemandem über das, was in ihrem Elternhaus vor sich ging, reden zu können. »Sie beherrscht ihn völlig. In der Burg geschieht nichts, was nicht ihre Billigung findet.«
»Du meinst, sie kümmert sich auch um die Handelsgeschäfte des Seigneurs?«
Ysobel stutzte, aber dann lachte sie auf. »Die Handelsgeschäfte? Womit sollen die Locronans noch handeln? Die Keller
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