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Zähl nicht die Stunden

Titel: Zähl nicht die Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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erwarten,
    dachte Kim, richtete sich wieder auf und piekste sich mit den
    aufgehobenen Haarnadeln in die Kopfhaut. Sie konnten es nicht
    erwarten, dem Tod eine Jahreszeit näher zu kommen.
    »Kim?«
    Der Klang ihres Namens stieß scheppernd auf ihr Ohr wie ein
    Beckenschlag, drängte sich in ihre Gedanken und hallte, in der
    verzweifelten Suche nach einem Ausgang gegen ihre Schädelwände
    prallend, in ihrem Kopf wider.
    »Verzeihung?«, hörte Kim sich fragen , während Mr. Wilkes sie anstarrte , als hätte er eine relevantere Antwort erwartet.
    »Ich glaube, ich habe dir eine Frage gestellt.«
    »Ich glaube, ich habe sie nicht gehört«, erwiderte Kim, bevor sie Zeit für eine besonnenere Antwort fand.
    Unwillen huschte über Mr. Wilkes blassgrüne Augen. »Und warum
    nicht, Kim? Hast du nicht aufgepasst?«
    »Ich würde meinen, das ist doch ziemlich offensichtlich, Sir«, gab Kim zurück , selbst überrascht über ihre Unhöflichkeit , obwohl sie das atemlose Stöhnen und unterdrückte Kichern diverser Klassenkameraden
    durchaus genoss. Es war mehr an Reaktion, als sie irgendeinem von
    ihnen seit Wochen hatte entlocken können.
    Es klingelte. 27 wie somnabul auf ihren Stühlen hängende Teenager
    erwachten schlagartig zum Leben, sprangen wie ein Mann auf und
    stürmten lärmend zur Tür. »Kim?«, fragte der Lehrer, als sie gerade gehen wollte.
    »Ich weiß von der Situation bei dir zu Hause«, begann er. »Dein Vater hat die Schule über den Zustand deiner Mutter informiert«, fuhr er fort, als sie nichts sagte. »Ich wollte bloß, dass du weißt, dass ich für dich da bin, falls du mal mit jemandem reden möchtest.«
    »Mir geht es gut, Sir«, erklärte Kim ihm und drückte ihre Bücher fest an die Brust.
    Gut. Gut. Gut. Gut.
    Wie konnte es ihr Vater wagen, die Schule anzurufen? Wie konnte er
    es wagen, die Lehrer über die Krankheit ihrer Mutter zu informieren?
    Welches Recht hatte er, so etwas zu tun? »Kann ich jetzt gehen?«, fragte sie.
    »Selbstverständlich.«
    Kim flüchtete durch die Flure zu ihrem Spind. Worüber hatte ihr
    Vater die Schule sonst noch informiert? Star-Anwalt Jake Hart, dachte sie spöttisch. Das große Plappermaul, kam der Sache schon näher,
    dachte sie, während sie an ihrem Zahlenschloss herumfummelte, die
    Zahlen durcheinander brachte und von vorne anfangen musste. Beim
    dritten Versuch schaffte sie es schließlich, warf ihre Bücher in den Spind, entnahm ihr Mittagessen und ging in die Kantine.
    Sie fand einen leeren Tisch in einer entlegenen Ecke und wandte den
    anderen Schülern den Rücken zu. Sie öffnete ihre Butterbrotdose und musterte stirnrunzelnd das Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade, das ihre Großmutter ihr geschmiert hatte. »Ich will schließlich nicht, dass deine Mutter sagt, ich hätte dir nichts Anständiges zu essen gegeben«, erklärte Grandma Viv. »Was glaubst du wohl, wessen Schuld es ist, wenn du bei ihrer Rückkehr aus Frankreich nur noch aus Haut und Knochen
    bestehst?«
    Das würde ihnen Recht geschehen, dachte Kim manchmal und warf
    das Brot in Richtung des großen Mülleimers in der Ecke. Das Sandwich prallte gegen die Kante, die beiden Brotscheiben lösten sich voneinander und landeten beide mit der klebrigen Seite auf dem Boden. »Verdammt«, sagte Kim, hob das Sandwich auf und warf die beiden Hälften in den
    Müll, ohne sich um die Marmeladen- und Erdnussbutterreste auf dem
    Fußboden zu kümmern. Ja, das würde ihren Eltern Recht geschehen , wenn sie bei ihrer Rückkehr aus dem malerischen Paris nur noch ein
    Bündel aus Haut und Knochen wäre. Das würde ihnen eine Lehre sein,
    sie nicht mehr allein zu lassen. Sie konnte ihr Bedürfnis, allem zu entfliehen, durchaus verstehen, aber das machte es auch nicht leichter oder weniger einsam für sie.
    Kims Magen knurrte, zum Teil aus Hunger, zum Teil aus Protest. Sie
    überprüfte den weiteren Inhalt ihrer Frühstücksdose. Eine kleine Tüte Milch und ein Snickers. Kim spürte, wie ihr das Wasser im Mund
    zusammenlief. Sofort nahm sie den Schokoriegel aus der Dose und
    schleuderte ihn in den Mülleimer, wobei sie dieses Mal einen direkten Treffer landete. Schokoriegel hatte sie ganz aufgegeben. Sie waren nicht gut für einen. Zu viel Fett. Zu viel Zucker. Es war wichtig, dass sie ihre Ernährung kontrollierte , dass sie genau überwachte , was sie sich in den Mund steckte. Wenn ihre Mutter vorsichtiger gewesen wäre , wenn sie all die süßen Desserts und die albernen Marshmallow-Erdbeeren, die

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