Zähl nicht die Stunden
sich neben Mattie legte und abwesend ihre sanft gerundete Hüfte liebkoste , während er im Kopf die auf dem Boden verstreuten Bücher und Spielsachen aufzuheben und an ihren
rechtmäßigen Platz zu räumen begann. Vorsichtig sammelte er die Teile seines zerbrochenen Modellflugzeugs ein und legte sie auf das kleine Tischchen , auf dem das Flugzeug normalerweise stand. Dann betrachtete er sich selbst, wie er die Kleiderschranktür öffnete und die drei kleinen Jungen ansah, die zusammengekauert in einer Ecke saßen. »Ihr könnt
jetzt rauskommen« , sagte er stumm. »Sie ist weg.«
Sofort schoss Nick aus dem Schrank und stürzte aus dem Zimmer.
»Nick« , rief Jake ihm nach und beobachtete , wie Nick sich in Luft auflöste. »Wir sehen uns später«, sagte er leise und wandte seine
Aufmerksamkeit den beiden anderen Jungen zu, die noch in dem
Schrank hockten. Luke saß bei der Tür und starrte, die Augen weit
aufgerissen, ins Leere. »Es tut mir so Leid, Luke«, sagte Jake, zwängte seine ausgewachsene Gestalt in den beengten Raum und kniete sich
neben den Jungen , der sein älterer Bruder war. »Bitte , verzeih mir.«
Luke sagte nichts. Stattdessen lehnte er seinen kindlichen Körper an Jake , ließ sich von ihm in die Arme nehmen und sanft hin und her wiegen , bis auch er verschwunden war.
Zurück blieb nur der kleine Jake. »Du bist ein guter Junge« , erklärte Jake ihm schlicht und ohne Worte und sah , wie sich das Lächeln des Jungen in seinen Augen spiegelte. »Ein sehr guter Junge , Jason. Ein sehr guter Junge.«
»Jake« , sagte Mattie und richtete sich im Bett neben ihm auf. Ihre Stimme riss ihn aus der Vergangenheit zurück in die Dämmerung des
neuen Tages. »Alles in Ordnung?«
»Alles bestens« , antwortete er. »Ich konnte nur nicht schlafen.« ..,-...
»Ich habe geträumt , du hättest gelacht.«
»Klingt wie ein guter Traum.«
»Was ist mit dir?« , fragte Mattie besorgt. »Noch immer Albträume?«
Jake schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, legte sich neben sie, nahm sie in beide Arme und schloss die Augen. »Keine Albträume mehr.«
29
Kim träumte wieder vor sich hin.
Sie saß in der letzten Reihe , hatte ihr Mathematik-Buch auf der richtigen Seite aufgeschlagen , und sah den birnenförmigen Lehrer in dem schlabbrigen braunen Anzug an der Tafel an, als würde sie dem, was der alte Mr. Wilkes zu sagen hat, tatsächlich folgen – irgendwas über das X, das man als Stellvertreter des Problems einsetzen sollte, als ob man irgendwas dadurch lösen könnte, indem ein Ding so tat, als wäre es ein anderes – während ihre Gedanken in Wahrheit tausende von Meilen
entfernt waren , auf der anderen Seite des Ozeans, in Paris, der Hauptstadt Frankreichs, wo sie mit ihrer Mutter Arm in Arm über die Champs Elysées schlenderte.
Ihre Mutter hatte gestern Abend angerufen , um zu hören, wie Kim in der Schule , mit Grandma Viv, mit ihrem neuen Welpen und mit ihrer Therapeutin zurechtkam.
Gut, gut, gut, gut, beantwortete sie jede neue Frage. Und bei dir?
Alles war toll, lautete die begeisterte Reaktion. Sie hatten schon den Eiffelturm, den Louvre, Montmartre, Notre Dame und den Quai
d’Orsay gesehen. Heute standen die Champs Elysées und der Are de
Triomphe auf dem Programm. Das Wetter war wunderbar , Jake war wunderbar , es ging ihr wunderbar.
Doch dann hatte sie angefangen zu husten und zu röcheln, und Jake
musste übernehmen und das Gespräch für sie beenden. Wie ging es ihr?, fragte ihr Vater. Wie war die Schule? Wie ging es Matties Mutter? Wie dem neuen Welpen? Wie liefen die Sitzungen mit Rosemary Colicos?
Gut, gut, gut, gut, sagte Kim. Lass mich noch mal mit Mama reden.
Ihre Mutter hätte manchmal Mühe, länger am Stück zu sprechen,
erklärte er, obwohl sie allgemein sehr gut zurechtkam, beeilte er sich, ihr zu versichern. Sie würden in ein paar Tagen noch mal anrufen. Paris war toll, sagte er. Nächstes Jahr würden sie sie mitnehmen.
Sicher doch, dachte Kim jetzt, nestelte an ihrem hochgesteckten Haar, sodass sich einige Haarnadeln lösten und von ihrer Schulter zu Boden fielen. Sie bückte sich, um sie aufzuheben , und musterte die seltsame Mischung aus Sommersandalen und schweren Winterstiefeln, die die
Füße ihrer Klassenkameraden schmückte. Ein schöner Tag, an dem die
Sonne herauskam und die Temperatur ein paar Grad über den
Gefrierpunkt stieg, und die Hälfte der Schüler kam ohne Strümpfe und mit kurzärmeligen T-Shirts. Sie konnten den Sommer nicht
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