Zähl nicht die Stunden
sie so gern aß, gemieden hätte, würde es ihr jetzt wahrscheinlich gut gehen.
Nein, man konnte gar nicht vorsichtig genug sein. In allen Lebensmitteln steckten so viele Chemikalien, Zusätze und Farbstoffe, dass man jedes Mal, wenn man den Mund aufmachte, praktisch eine Entscheidung über
Leben und Tod traf.
Sogar Milch, dachte Kim, riss den Karton auf der falschen Seite auf und sah zu, wie die warme Milch Blasen schlug und über ihre Finger
sickerte. Wer wusste schon, was die Landwirtschaftsindustrie der Milch beimischte, um die Gifte zu überdecken, die Kühe täglich in sich
aufnahmen. Man musste sich nur ansehen, wie viele Laktose-Allergiker esheutzutage gab. Esmusste doch einen Grund geben, warum die Leute immer anfälliger für alle möglichen schrecklichen Krankheiten wurden.
Kim führte den Karton an die Lippen , roch die lauwarme Milch und schmeckte sie auf der Zungenspitze. Kurz darauf und ehe Kim wusste , was sie tat , war die Milch bei dem Rest ihres Mittagessens im Müll gelandet und Kim auf dem Weg in die Sporthalle. Wenn sie schon nichts aß , konnte sie wenigstens früher mit ihrem Fitness-Programm anfangen.
Nach dem Fiasko mit Teddy hatte sie angefangen, regelmäßig an ihrer
Fitness zu arbeiten. Anfangs hatte sie nur eine viertel Stunde lang ein paar Übungen für die Bauch- und Oberschenkelmuskulatur, ein paar
Dehnungen und ein paar Runden um den Sportplatz absolviert. Doch
alle paar Tage kam eine neue Übung hinzu, sodass sie mittlerweile fast zwei Stunden täglich trainierte. Zuerst leichtes Stretching, dann eine halbe Stunde schonende Aerobic, weitere Dehnungen, dann mindestens
eine halbe Stunde Aerobic mit voller Kraft, gefolgt von zweihundert Sit-ups und einhundert Liegestützen, weiterem Stretching, Laufen, Hüpfen und Springen und zu guter Letzt ein paar abschließende Dehnübungen.
Selbst wenn sie George im Arm hielt, trainierte sie ihre Bauchmuskeln weiter, weil man gar nicht zu fit sein konnte. Man konnte nie zu gesund sein.
Kim schnürte ihre Joggingschuhe und sah auf die Uhr. Bis zum
Beginn ihrer nächsten Unterrichtsstunde hatte sie noch mehr als vierzig Minuten Zeit. Genug für eine ordentliche Distanz, dachte sie, als sie ihre erste Runde um die Sporthalle begann. Im nächsten Monat konnte sie
noch Schwimmen auf die Liste setzen. Kim stellte sich ihre Mutter vor, wie sie in dem Pool im Garten auf und ab schwamm. Auf und ab,
einhundert Mal, jeden Tag von Mai bis Mitte Oktober. Und was hatte ihr das genutzt?, fragte Kim sich und blieb abrupt stehen. Und das ganze Chlor im Wasser. Strapazierte die Haare. Gar nicht auszudenken , was es mit den inneren Organen machte. Denn man konnte schließlich gar
nicht anders , als hin und wieder etwas zu schlucken. Das war unvermeidlich. Kim setzte sich wieder in Bewegung und entschied , dass Schwimmen vielleicht doch keine so gute Idee war.
»Hey , Kimbo« , rief irgendjemand. »Wohin denn so eilig?«
Kim blickte zu der breiten Doppeltür der Sporthalle und sah Caroline Smith , flankiert von ihren beiden Klonen Annie Turofsky und Jodi Bates , alle in passenden roten Pullovern.
»Wo willst du hin?«, fragte Jodi.
»Bist du vor irgendwem auf der Flucht?«, fragte Annie.
Kim versuchte, sie zu ignorieren. Sie hatten seit Monaten kaum ein
Wort mit ihr gewechselt. Sie interessierten sich bloß wieder für sie, weil sie im Unterricht so grob zu dem alten Mr. Wilkes gewesen war, weil sie das potenziell interessant, potenziell gefährlich machte. Warum sollte sie auf ihre grausamen Launen eingehen? Warum sollte sie sich überhaupt verpflichtet fühlen , ihnen zu antworten? Aber sie fühlte sich gar nicht verpflichtet , stellte sie fest , verlangsamte ihre Schritte und lief zu ihnen.
Sie war dankbar. »Was gibt’s?«, fragte sie, als wären die letzten paar Monate nie gewesen.
»Was wollte denn der alte Wilkes hinterher noch von dir?«, fragte
Caroline. »Wir haben gewettet , dass er dich vom Unterricht ausschließen würde.«
»So viel Glück hatte ich nicht.«
»Und wer ist die alte Schachtel, die dich jeden Tag zur Schule fährt«, fragte Annie.
»Meine Großmutter«, antwortete Kim. »Und sie ist keine alte
Schachtel.«
Caroline zuckte mit den Achseln, und ihre beiden Begleiterinnen taten es ihr unverzüglich nach. Uninteressant , sollte das heißen. »Ich wohne bei ihr, solange meine Eltern in Frankreich sind«,fügte Kim ungefragt hinzu.
»Deine Eltern sind weg?«, fragte Caroline.
»Warum hast du uns das nicht
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