Zähl nicht die Stunden
ungefähr fünf Minuten.«
»Und dann?« Atme , befahl Mattie sich selbst. Bleib ruhig. Denk an was Schönes.
»Dann folgt eine kleine Pause , ein paar Minuten nur , dann machen wir die nächste Serie von Aufnahmen. Insgesamt läuft das fünfmal so ab.
Sind Sie bereit?«
Nein , ich bin nicht bereit , schrie Mattie lautlos, während sich aus der Ferne schon das Hufgetrappel einer Horde von Pferden näherte. Das ist interessant , dachte Mattie und vergaß über dem lauten Klipp-Klopp , Klipp-Klopp einen Moment ihre Panik , während sie hinter fest geschlossenen Augen eine Schar
schwarz-weißer Hengste
herangaloppieren sah. Schwarz und Weiß , dachte sie. Nichts ist je rein schwarz oder weiß, es gibt nur unterschiedliche Nuancen von Grau. Wo hatte sie das gehört?
Der Unfall, dachte sie, saß plötzlich wieder in ihrem Wagen und sah
hilflos zu, wie er in den Gegenverkehr hineinraste. Ein Zusammenstoß von Weiß und Schwarz. Unterschiedliche Nuancen von Grau. Was hatte
sie sich gedacht?
»Alles in Ordnung, Mattie?«
Mattie brummte zustimmend und versuchte sich vorzumachen , sie hätte weit offenen Raum um sich und nicht einen Kasten über dem
Kopf , der nur Zentimeter von ihrer Nase entfernt war. Ich liege an einem leeren, weißen Sandstrand auf den Bahamas, sagte sie sich. Meine Augen sind geschlossen , und das Meer plätschert mir um die Füße. Und hundert Pferde galoppieren auf mich zu , um mich lebendig unter dem Sand zu begraben , dachte sie mit neu aufflammender Panik , als der Lärm von neuem begann. Bleib ruhig. Bleib ruhig. Du hast den Summer in der Hand. Du kannst jederzeit drücken. Denk an was Schönes. Beruhige
dich. Du liegst an einem Strand auf den Bahamas. Nein , das funktioniert nicht. Du liegst nicht an einem Strand auf den Bahamas. Du liegst auf einem Tisch in einer Röhre in einem Krankenhaus in Chicago. Sie
schauen sich an , wie dein Kopf von innen aussieht, und fotografieren es.
Was werden sie sagen, wenn sie entdecken , dass da drinnen gähnende Leere ist?
Ich krieg keine Luft. Ich ersticke. Ich muss raus hier.
Denk an was Schönes. Stell dir vor , du lägst in deinem Bett. Nein , das ist nicht schön. Wann hast du dich in deinem Bett das letzte Mal sicher und geborgen gefühlt? Nicht mehr seit ich klein war , dachte Mattie und sah sich augenblicklich als kleines Mädchen mit ernstem Gesicht , wie sie unter dem blau-weißen Quilt in ihrem Bett lag. Ihr Vater saß neben ihr , den Rücken an das Kopfbrett gelehnt , und las ihr eine Gute-Nacht-Geschichte vor , die sie besonders gern hatte.
»So , Mattie , das ist alles für heute Abend« , sagte er und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie spürte das Kitzeln seines Schnurrbarts, der ihre Haut streifte.
»Bleibst du hier, bis ich eingeschlafen bin?« Jeden Abend pflegte sie diese Frage zu stellen.
Und jeden Abend antwortete er, »Du bist doch jetzt ein großes
Mädchen, da muss ich doch nicht hier bleiben und an deinem Bett
sitzen«, während er es sich schon am Fußende ihres Betts bequem
machte. Auch wenn ihre Mutter ihn rief, selbst wenn sie, eine Hand
ungeduldig über die andere geschlagen, direkt an der Tür stand – er blieb am Fußende ihres Betts sitzen, bis sie eingeschlafen war, ganz gleich, wie lange es dauerte.
»Jetzt kommt die dritte Serie«, kündigte Noreen an.
Wie viel Zeit war inzwischen um? Mattie wollte die Frage gerade laut stellen, als eine neue Pferdehorde herangaloppierte und sie daran
hinderte. Gleich darauf stellten sich noch andere Geräusche ein, laut und dröhnend, als schlüge jemand mit einem Hammer auf die Röhre. Wie
sollte sie bei diesem Getöse einschlafen?
Der Krach erinnerte sie an die Küchenrenovierung, als die
Handwerker die vorhandenen Schränke herausgerissen hatten , um sie durch moderne zu ersetzen. Jake hatte ihr nicht erlaubt, den alten Elektroherd rauszuwerfen und dafür einen Gasherd installieren zu
lassen, den sie viel lieber gehabt hätte. Er beschwerte sich ständig nur über das Riesendurcheinander, dass er in diesem Chaos seine Sachen
nicht finden und bei dem Krach keinen klaren Gedanken fassen könne.
O Gott –Jake! Heute Morgen im Gerichtssaal. Sein Schlussplädoyer.
Ihr Gelächter. So unerwartet , so unpassend. Jakes Gesichtsausdruck, als er sie angesehen hatte. Die Richterin, die mit ihrem Hämmerchen auf den Tisch hieb – ein unangenehmes Geräusch, das schon das Hämmern
dieser grässlichen Maschine vorweggenommen hatte. So wahnsinnig laut.
Musste das
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