Zähl nicht die Stunden
wo er nicht
einfach aufstehen und gehen konnte? War das der Grund, weshalb sie so häufig wartete, bis sie im Wagen saßen, ehe sie loslegte? Weil er ihr dann nicht entkommen konnte?
»Du musst doch wissen, dass ich dich niemals absichtlich derartig in Verlegenheit bringen würde.«
»Muss ich das?« Er spürte , wie er sich trotz aller festen Vorsätze in die Diskussion hineinziehen ließ. »Warum bist du zum Prozess gekommen , Mattie?«
»Warum hast du gesagt, ich soll nicht kommen?«, konterte sie.
»Einspruch«, sagte er. »Irrelevant und polemisch.«
»Tut mir Leid«, entschuldigte Mattie sich sofort. »Ich wollte dich nicht ärgern.« Das brauchst du gar nicht zu wollen, du tust es ganz von selbst, dachte Jake, sagte aber nichts. Es war das Beste, einfach den Mund zu halten , bis sie zu Hause waren. Er nahm eine Hand vom Lenkrad, um das Radio lauter zu drehen, und sah aus dem Augenwinkel, wie Mattie das Gesicht verzog. Ein medizinischer Grund für dieses Affentheater im Gerichtssaal, dachte er ungläubig. Es war wirklich höchste Zeit, dass er ging.
Erst als sie nach ihrem Nickerchen aufstand , bemerkte sie , dass alle seine Kleider fort waren.
Er hörte sie oben umhergehen, Schranktüren öffnen und schließen , Kommodenschubladen aufziehen und wieder zustoßen. Er stellte sich
den Ausdruck der Verwunderung in ihrem ebenmäßigen Gesicht vor , wie sie die Brauen zusammenzog , wie der hübsche Schwung ihres Mundes sich verzerrte.
»Jake?« , hörte er sie rufen und vernahm zugleich ihre Schritte auf der Treppe.
Er saß auf dem kleineren der beiden burgunderroten Ledersofas in
seinem Arbeitszimmer vor einem eleganten offenen Marmorkamin, der
auf beiden Seiten von eingebauten Bücherregalen flankiert war. Die
Bücher standen ordentlich in alphabetischer Reihenfolge, auf der einen Seite die Romane , auf der anderen Sach- und Fachbücher. An den holzgetäfelten Wänden hingen diverse Universitätsurkunden, und auf
dem dunklen Holzfußboden lag ein Petit-Point-Teppich mit
Blumenmuster in Blau und Rose. Sein Schreibtisch, eine
Spezialanfertigung nach seinen Angaben , Eiche , von Hand geschnitzt, stand, mit einer kompletten Computeranlage ausgerüstet , am anderen Ende des Raums vor einer Fensterwand mit Blick auf die breite, von
Bäumen gesäumte Straße. Das Zimmer war praktisch und dem Auge
gefällig zugleich, ein Raum, in dem man arbeiten oder entspannen
konnte. Mattie hatte ihre Sache gut gemacht. Ich hätte öfter mal hier arbeiten sollen, dachte er und verscheuchte sofort die unerwünschten Schuldgefühle. Nicht schuldig! , wollte er laut rufen. Ich bin nicht schuldig. Nicht schuldig. Nicht schuldig.
»Was geht hier vor , Jake?«, fragte Mattie, die im Türrahmen stehen geblieben war.
Widerstrebend drehte er den Kopf nach ihr, und ein unwillkürliches
Zurückzucken störte die äußere Ruhe, in der er sich geübt hatte, seit sie sich einige Stunden zuvor hingelegt hatte. Musste sie aber auch so
verdammt verletzlich aussehen? Er wollte die Schwellungen unter ihren Augen nicht sehen. Und auch nicht die Blutergüsse, die im Schlaf
dunkler geworden zu sein schienen , die Schrammen im Gesicht und am Hals , die der Schlaf vertieft zu haben schien. Wahrscheinlich war dies genau der falsche Moment , ihr seinen Entschluss mitzuteilen. Vielleicht wäre es besser zu warten , bis sie vollständig wiederhergestellt war.
Aber darüber würde ein weiterer Monat ins Land ziehen , ein weiterer Monat der Schuldgefühle und des Grolls, und bis dahin würde bestimmt wieder irgendetwas geschehen, was ihn hier halten würde. Das konnte er nicht riskieren. Er würde ersticken, wenn er blieb. Wenn er nicht ging, wenn er nicht auf der Stelle ging, jetzt, sofort , würde er umkommen. So einfach war das.
Rückblickend war Matties bizarrer Ausbruch im Gerichtssaal in
gewisser Weise ein Segen gewesen. Er hatte ihm den Mut gegeben,
endlich zu tun, was getan werden musste. Er brauchte sich nicht schuldig zu fühlen. Er würde nur das aussprechen, was sie beide schon seit Jahren dachten.
Jake stand auf und forderte Mattie mit einer Handbewegung auf, sich
zu ihm zu setzen, aber sie schüttelte ablehnend den Kopf und blieb
stehen. Stur wie immer, dachte Jake. Und hart. Viel härter als er. Sie würde glänzend zurechtkommen.
»Wo sind deine ganzen Sachen?«, fragte sie.
Jake setzte sich wieder und hörte das Knarren des Leders, als er es sich bequem zu machen suchte. »Ich halte es für das Beste , wenn ich
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