Zähl nicht die Stunden
seinen Entschluss zu erklären und sie davon zu überzeugen , dass er wohl begründet war. Jake musste innerlich lachen, als er den Wagen vor Mattie an den Bordstein fuhr und heraussprang , um ihr die Tür zu öffnen. Kim würde weit schwerer zu überzeugen sein als alle Geschworenen. Sie war ganz die Tochter ihrer Mutter. Er
bezweifelte stark , dass er überhaupt eine Chance hatte.
»Vorsicht mit deinem Kopf« , sagte er , als er Mattie ins Auto half.
»Keine Sorge«, sagte sie.
Keine Sorge, wiederholte Jake erleichtert in Gedanken. Ihr fehlte nichts. Keine Knochenbrüche, keine schweren Verletzungen , keine Wunden, die nicht bis zum Ende des nächsten Monats verheilt wären.
Die Kernspintomographie hatte keinerlei Blutungen im Gehirn, keine
Tumoren , nichts irgendwie Auffälliges gezeigt. »In meinem Kopf ist gar nichts« , hatte Mattie am Telefon gesagt und erleichtert gelacht. Ihr Lachen hatte in ihm eine bittere Erinnerung an die Szene im Gerichtssaal hervorgerufen.
»Müde?« , fragte er sie jetzt , als er den Wagen zur Straße hinaus lenkte und Richtung Lakeshore Drive fuhr.
»Ein bisschen.«
»Vielleicht kannst du dich eine Weile hinlegen, wenn wir zu Hause
sind.«
»Vielleicht.«
Mehr sprachen sie auf der Fahrt nach Evanston nicht mehr. Wie hatte
er sich nur dazu überreden lassen können, hier heraus zu ziehen, mitten in die Prärie?, fragte er sich, als sie die Sheraton Road erreichten , und ließ seinen Blick von den stattlichen Herrenhäusern zur Linken zum kalten Wasser des Michigansees zur Rechten schweifen. Automatisch sah er auf die Uhr und stellte mit Überraschung fest, dass es fast zwei war. Er überlegte, was Honey jetzt wohl gerade tat und ob sie sich wohl die gleiche Frage in Bezug auf ihn stellte.
»Glaubst du , sie weiß Bescheid?« , hatte Honey ihn neulich Abend erst gefragt. »Über mich , meine ich« , hatte sie überflüssigerweise hinzugefügt , als er nicht geantwortet hatte. »Glaubst du , dass sie es deshalb getan hat?
Aus bösem Willen?«
Er hatte den Kopf geschüttelt. Bei Frauen wusste man doch nie,
warum sie dies oder jenes taten.
»Sie ist sehr hübsch.«
»Kann sein, ja«, hatte er gesagt.
»Wie geht es weiter , wenn sie aus dem Krankenhaus kommt?« , hatte Honey , als sie neben ihm im Bett lag, gefragt.
»Wie geht’s jetzt weiter?«, fragte Mattie , als sie neben ihm im Auto saß.
»Wie bitte?« Jake umfasste das Lenkrad plötzlich so krampfhaft, dass ihm die Finger wehtaten. Mattie war wirklich die reinste
Gedankenleserin. Es war, als brauchte sie nur in sein Gehirn
hineinzugreifen , um sich irgendeinen Gedanken herauszupicken , der da gerade herumflatterte. Er musste vorsichtiger sein. Nicht einmal seine Gedanken waren vor ihr sicher.
»Fährst du noch einmal in die Kanzlei , wenn du mich abgesetzt hast?«
»Nein« , antwortete er. »Das hatte ich eigentlich nicht vor.«
»Wie schön« , sagte sie schlicht. Nicht: Aber bleib bitte nicht meinetwegen zu Hause. Nicht: Das ist wirklich nicht nötig. Keine
falschen Gefühle. Kein Versuch, ihm das zu sagen, was er ihrer Meinung nach vielleicht hören wollte.
Sie würde es ihm nicht leicht machen.
»Nochmals meinen Glückwunsch« , sagte sie leise , den Blick zu Boden gerichtet.
Sie hatte ihn kurz nach der Urteilsverkündung in der Kanzlei
angerufen. Siebenundzwanzig Stunden nachdem die Geschworenen sich
zur Beratung zurückgezogen hatten , war Douglas Bryant ein freier Mann und Jake Hart ein Star. »Ich habe von deinem Erfolg gehört« , hatte sie vorsichtig gesagt. »Ich wollte dir gratulieren.«
Er hatte ihre Glückwünsche mit einem kurzen Danke weggefegt und
war im Begriff, jetzt das Gleiche zu tun, als sie sagte, »Es tut mir Leid –«
»Nicht nötig«, unterbrach er.
»- dass ich dieses Riesentheater gemacht habe.«
»Es ist ja vorbei.«
»Ich weiß nicht, was in dem Moment in mich gefahren ist.«
»Es spielt doch jetzt keine Rolle mehr.«
»Lisa meint, es gäbe womöglich eine medizinische Erklärung dafür.«
»Eine medizinische Erklärung?« Jake spürte, wie sich Wut in ihm
aufbaute und seine Worte in Hohn tränkte. »Also, das ist wirklich gut!«
»Du bist immer noch wütend«, stellte Mattie fest.
»Nein, bin ich nicht. Vergiss es.«
»Ich finde, wir sollten darüber reden.«
»Was gibt ’ s da groß zu reden?«, fragte er, und plötzlich kam ihm der geräumige BMW wie eine enge kleine Zelle vor. Musste sie denn solche Diskussionen jedes Mal an Orten vom Zaun brechen,
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