Zähl nicht die Stunden
belastender als das mit Jake und wünschte plötzlich, sie stünde mit Roy Crawford zusammen draußen auf der
Treppe vor dem Art Institute.
»Was läuft hier eigentlich, Lisa? Was für eine grässliche Krankheit habe ich denn deiner Meinung nach?«
»Soviel ich weiß, hast du gar nichts«, antwortete Lisa ruhig. »Ich möchte nur nichts versäumen.«
»Du möchtest nichts versäumen?«, wiederholte Mattie.
»Ja, ich möchte gewisse muskuläre Erkrankungen ausschließen. Ich
versuche, einen Termin für nächste Woche zu bekommen, okay?«
Mattie fühlte sich von einer gewaltigen Woge der Müdigkeit erfasst.
Sie wollte nicht streiten. Nicht mit ihrem Mann. Nicht mit ihrer besten Freundin. Sie wollte nur in ihr Bett und diesen grauenvollen Tag endlich hinter sich lassen.
»Wie lange dauert diese Untersuchung?«
»Ungefähr eine Stunde. Manchmal auch länger.«
»Wie viel länger?«, wollte Mattie wissen.
»Sie kann zwei, gelegentlich sogar drei Stunden dauern.«
»Zwei oder drei Stunden? Du verlangst von mir allen Ernstes, dass ich mich brav hinsetze und mir von irgendeinem Sadisten zwei oder drei
Stunden lang Nadeln in die Muskeln stechen lasse?«
»Im Allgemeinen dauert es nur eine Stunde«, versicherte Lisa, bemüht, ihre Freundin zu beruhigen, jedoch ohne Erfolg. »Das kann doch nur ein schlechter Witz sein!«
»Es ist kein Witz, Mattie. Ich würde es nicht von dir verlangen, wenn ich es nicht für wichtig hielte.«
»Ich werd’s mir überlegen«, sagte Mattie nach einer langen Pause, in der sie ganz bewusst an gar nichts dachte.
»Versprichst du es mir?«
»Ich bin kein Kind mehr, Lisa. Ich habe gesagt, ich werd’s mir
überlegen, und genau das werde ich tun.«
»Ich habe dich erschreckt«, sagte Lisa leise. »Das tut mir Leid. Das wollte ich nicht.«
Mattie nickte. Sie fühlte sich so hilflos wie in den Sekunden
unmittelbar vor dem Unfall, so als wäre sie immer noch in dem rasenden Auto eingesperrt und könnte die Bremse nicht finden. Sie konnte nicht anhalten, sie konnte nicht abbremsen. Ganz gleich, was sie tat, ganz gleich, was sie versuchte, es würde zum Crash kommen, und sie würde verbrennen.
Light my fire. Light my fire. Light my fire.
»Soll ich mal mit Jake reden?«, fragte Lisa.
»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte Mattie in einer Schärfe , die von einer erneuten Zorneswelle befeuert wurde. »Warum solltest du wohl mit Jake reden wollen?«
»Einfach um ihn auf dem Laufenden zu halten.«
»Er will gar nicht auf dem Laufenden gehalten werden.«
»Der Mistkerl!«, schimpfte Lisa.
»Nein«, protestierte Mattie. »Doch«, sagte sie dann und lachte und war dankbar, als Lisa mit ihr lachte. Wenn Lisa lachte, dann war alles nicht so schlimm, wie es zunächst ausgesehen hatte. Ihr fehlte nichts. Sie würde diese scheußliche Untersuchung, wo sie einem Nadeln ins Fleisch
stachen und die Muskeln wie Popcorn knackten, nicht über sich ergehen lassen müssen, und selbst wenn, würde nichts dabei herauskommen,
genau wie bei der Kernspintomographie.
»Ich hab eine Idee«, verkündete Lisa. »Wie war’s, wenn ich heute hier übernachte?«
»Was? Das ist eine ausgesprochen blöde Idee.«
»Na hör mal. Fred wird einen Abend schon mal allein mit den Jungs
fertig werden. Wir machen es wie früher bei unseren Pyjama-Partys, weißt du noch? Wir bestellen Pizza, hocken uns vor die Glotze und
machen uns gegenseitig verrückte Frisuren. Hey, das wird doch toll.«
Mattie musste lächeln über so viel Edelmut. »Lisa, du brauchst dir
keine Sorgen um mich zu machen. Es geht mir gut. Wirklich. Fahr du
ruhig nach Hause. Trotzdem , danke für dein Angebot. Das ist sehr lieb.«
»Die Vorstellung , dass du gleich in der ersten Nacht nach dem Krankenhaus ganz allein bist, ist mir einfach unsympathisch.«
»Vielleicht möchte ich ja gern allein sein.«
»Ehrlich?«
Mattie dachte einen Moment ernsthaft über die Frage nach. »Ja«, sagte sie dann. »Ja, ich möchte gern allein sein.«
Nie war ihr das Haus so groß, so leer, so still vorgekommen.
Nachdem Lisa gefahren war, ging sie wie in Trance von Raum zu
Raum, strich mit leichten Fingern über die blassgelben Wände und
bewunderte die Einrichtung, als sähe sie alles zum ersten Mal. Gleich hier drüben haben wir das Esszimmer mit einem großen Tisch, an dem
bequem zwölf Personen Platz haben, genau das, was eine frisch
gebackene Alleinstehende unbedingt braucht. Und dort ist das
großzügige Wohnzimmer , komplett mit
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