Zähl nicht die Stunden
anstatt in täglicher Erwartung der Katastrophe zu leben? Sicher, sie würde einsam sein. Aber die
vergangenen fünfzehn Jahre hatten sie gelehrt, dass man nirgends
einsamer war als in einer unglücklichen Ehe.
Das Telefon läutete.
Mattie überlegte, ob sie hingehen sollte oder nicht, legte sich dann ein Badetuch um und humpelte zum Telefon , das auf Jakes Seite des Betts stand. Vielleicht war es Lisa , die noch einmal anrief, um sich zu erkundigen, wie es ihr ging. Oder Kim. Oder Jake, dachte sie, als sie den Hörer an ihr Ohr hob. »Hallo?«
»Martha?« Der Name sauste wie ein Hackebeil durch die Luft.
Mattie ließ sich aufs Bett sinken , verletzt , noch ehe das Gespräch begonnen hatte. »Mutter« , sagte sie und wagte nicht , mehr zu sagen.
»Ich will dich nicht lange aufhalten«, begann ihre Mutter. Mattie
verstand sofort , dass ihre Mutter keine Lust hatte , lange zu telefonieren.
»Ich rufe nur an , um zu fragen, wie es dir geht.«
»Es geht mir gut, danke«, sagte Mattie zum Hundegekläff aus dem
Hintergrund. »Und dir?«
»Na, du weißt ja, Altwerden ist kein Honigschlecken.«
Du bist knapp sechzig, dachte Mattie, aber sie sagte es nicht. Was
hätte es gebracht?
»Es tut mir Leid, dass ich dich nicht im Krankenhaus besucht habe.
Aber du weißt ja, wie es mir mit Krankenhäusern geht.« »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«
»Jake sagt, du bist noch ganz schön mitgenommen.«
»Wann hast du mit Jake gesprochen?«, fragte Mattie.
»Er war hier, um Kim abzuholen. Er wollte mit ihr essen gehen.«
»Ach was?«
»Ja, vor ungefähr einer Stunde.«
»Hat er sonst noch was gesagt?«
»Zum Beispiel?«
»Wie geht es Kim?«, wechselte Mattie geschickt das Thema.
»Sie ist ein süßes Ding«, sagte ihre Mutter mit der Wärme, die sie
normalerweise ihren Hunden vorbehielt. »Sie war mir eine große Hilfe, als Lucy geworfen hat.«
Mattie hätte beinahe gelacht. Natürlich, das also war der wahre
Grund, dachte sie, während sie ihren rechten Fuß, der immer noch
prickelte, kreisen ließ. »Hör zu, Mama, ich war gerade in der Wanne, als du angerufen hast, und jetzt stehe ich tropfnass hier herum.«
»Dann machen wir jetzt besser Schluss.« Mattie hörte die
Erleichterung im Ton ihrer Mutter. »Ich wollte nur wissen , wie es dir geht.«
Es ging mir gut , dachte Mattie. »Es geht mir gut« , sagte sie. »Tschüss , Mutter. Danke , dass du angerufen hast.«
»Auf Wiedersehen, Martha.«
Nachdem Mattie aufgelegt hatte, verlagerte sie ihr ganzes
Körpergewicht auf den renitenten rechten Fuß und atmete tief aus vor Erleichterung, als sie das Teppichgewebe unter ihren Zehen spürte. »Es geht mir gut«, sagte sie noch einmal, als sie ins Bad zurückkehrte und wieder in die Wanne stieg, in der das Wasser nicht mehr so warm und beruhigend war wie zuvor. »Es geht mir gut.«
9
»Alles in Ordnung?« Kim räusperte sich in dem erfolglosen Bemühen,
das Zittern aus ihrer Stimme zu verbannen. Warum stellte sie diese
Frage? Lag denn die Antwort nicht auf der Hand. Nie zuvor hatte sie ihre Mutter so offensichtlich nicht ›in Ordnung‹ gesehen. Ihre Haut war beinahe durchsichtig unter dem Farbenspiel der allmählich verblassenden Quetschungen und Blutergüsse. Ihre sonst so lebendigen blauen Augen
waren ohne Glanz, wie von einem matten Schleier der Furcht und des
Schmerzes überzogen. Tränen hatten Spuren in der Schminke
hinterlassen, die sie nur Stunden zuvor mit so viel Sorgfalt aufgelegt hatte. Ihre Hände zitterten. Ihre Schritte waren klein und unsicher. Kim hatte ihre Mutter nie so hilflos erlebt. Es kostete sie all ihre Willenskraft, nicht in Tränen auszubrechen.
»Mama, geht es dir gut?«
Sag ja, sag ja, sag ja.
»Deine Mutter braucht ein paar Minuten Ruhe«, hörte Kim jemanden
sagen und bemerkte erst jetzt die kräftige Frau an der Seite ihrer Mutter.
Musst du so gesund aussehen?, dachte sie ärgerlich. Die glänzende
olivbraune Haut der Frau und ihre blitzenden dunklen Augen erschienen ihr wie eine Herausforderung. »Wer sind Sie?«, fragte sie.
»Rosie Mendoza«, antwortete die Frau und tippte mit einem Finger
auf das Namensschild, das um ihren Hals hing. Dann führte sie Mattie zu einem der Stühle, die im Korridor des Krankenhauses an der Wand
verteilt waren. »Assistentin von Dr. Vance.« »Ist mit meiner Mutter alles in Ordnung?«
»Mir geht es gut, Schatz« , flüsterte Mattie, obwohl sie gar nicht den Eindruck machte. Ihre Stimme klang schwach , sie wirkte
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