Zähl nicht die Stunden
habe dich lieb, Kim«, sagte ihr Vater noch einmal.
»Jetzt bin ich genau wie die anderen«, war Kims Antwort.
Und darum hatte sie sich, als Lisa anrief, um Mattie mitzuteilen , dass sie für den Donnerstag der folgenden Woche einen Termin für das
Elektromyogramm vereinbart hatte , sofort erboten, ihre Mutter ins Krankenhaus zu begleiten, auch wenn sie deshalb einen Nachmittag
Schule versäumen würde. Zu ihrer Überraschung war ihre Mutter
einverstanden gewesen.
»Wir Frauen müssen zusammenhalten«, sagte Kim später, als sie zu
ihr ins Bett kroch, wie sie das jeden Tag tat, seit Jake gegangen war. Sie legte ihren Arm beschützerisch über die Hüfte ihrer Mutter und atmete langsamer , um sich dem Rhythmus ihrer Mutter anzupassen. Und so lagen sie , zwei Körper , die sich in harmonischem Einklang hoben und senkten , während ihr Atem kam und ging wie aus einem Mund.
»Kannst du nach Hause fahren?«, fragte Kim ihre Mutter jetzt.
»Lass mir noch ein paar Minuten Zeit«, antwortete Mattie.
Aber zwanzig Minuten später saß Mattie immer noch reglos auf ihrem
Stuhl und starrte zu ihren Füßen hinunter. Ihr Gesicht war geisterhaft bleich, und ihre Hände zitterten.
»Ich glaube, du rufst am besten deinen Vater an«, sagte sie und
begann zu weinen.
»Wir können doch ein Taxi nehmen« , entgegnete Kim.
»Ruf deinen Vater an.«
»Aber –«
»Bitte! Keine Widerreden jetzt. Ruf ihn an.«
Kim gehorchte widerstrebend. An einem öffentlichen Telefon neben
den Aufzügen am Ende des langen Korridors wählte sie den privaten
Anschluss ihres Vaters in der Kanzlei und hoffte , er wäre bei Gericht, in einer Besprechung, aus sonstigen Gründen nicht erreichbar. »Ich
verstehe nicht, warum wir nicht einfach ein Taxi nehmen können« , murrte sie vor sich hm , während sie einen alten Mann in einem fleckigen blauen Krankenhaushemd beobachtete , der , das Gestell mit seinem Tropf neben sich her schiebend, durch den Korridor schlurfte. Sie
konnte jetzt die Aversion ihrer Großmutter gegen Krankenhäuser
verstehen. Das waren gnadenlose , traurige Orte voll verwundeter Körper und verlorener Seelen. Selbst Menschen , die wie ihre Mutter völlig gesund hier hereinkamen, schleppten sich schwach und von Schmerzen
geplagt wieder heraus, nur noch gebrechliche Schatten ihrer selbst. Kim überkam ein Ekelgefühl, als sie sich fragte, ob sie sich vielleicht irgendeinen tödlichen Virus geholt hatte, während sie vor dem
Sprechzimmer des Arztes gewartet hatte. Wie viele Hände hatten in
diesen alten Zeitschriften geblättert? Was für Bakterien war sie
ausgesetzt gewesen in den endlosen Minuten des Wartens auf ihre
Mutter? Kim rieb sich die Hand an ihrer Jeans ab, als wollte sie sich von Krankheitskeimen befreien. Ihr war schwindlig und heiß , als würde sie gleich in Ohnmacht fallen.
»Jake Hart« , meldete sich plötzlich ihr Vater , und seine Stimme traf sie wie ein Guss eiskalten Wassers.
Sie richtete sich auf. Sie straffte die Schultern , während ihre Knie einzuknicken drohten. Sie strich sich über die Stirn und starrte auf die Reihe geschlossener Aufzugtüren. Was sollte sie sagen? Hallo, Daddy?
Hallo, Vater? Hallochen , Jake?
»Ich bin’s Kim« , sagte sie schließlich , als der alte Mann mit seinem Gestell eine abrupte Kehrtwendung machte und in der anderen Richtung den Korridor wieder zurückschlurfte. Kim sah flüchtig weiße
Gesäßbacken im klaffenden Rückenschlitz des Anstaltshemds
aufleuchten. Was hatten sie wohl mit dem armen Mann für
Untersuchungen gemacht.
»Kim , mein Liebes –«
»Ich bin mit Mama im Michael-Reese-Krankenhaus« , sagte Kim ohne Umschweife.
»Was ist passiert?«
Kim drückte ihr Kinn in den Rollkragen ihres roten Pullovers, schob
die Unterlippe vor und seufzte gereizt. »Wir brauchen deine Hilfe«, sagte sie.
Vierzig Minuten später holte Jake seine Frau und seine Tochter im Foyer des Krankenhauses in der Innenstadt ab. »Entschuldigt bitte, dass ich so lang gebraucht habe«, sagte er, als Kim mit finsterer Miene ihren Unmut signalisierte. »Ich bin in der Kanzlei aufgehalten worden, als ich gerade wegwollte.«
»Natürlich, du bist ja ein viel beschäftigter Mann«, sagte Kim
höhnisch.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte Mattie.
»Steht der Wagen auf dem Parkplatz?«
Mattie reichte ihm die Schlüssel für den Mietwagen. Ihr Intrepid hatte bei dem Unfall einen Totalschaden davongetragen. »Es ist ein weißes Oldsmobile.« »Ich find ihn schon. Alles in
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