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Zähl nicht die Stunden

Titel: Zähl nicht die Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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ihre Mutter, die ihr Leben lang keiner Fliege was zu Leide getan hatte, jetzt nicht an irgendeiner fürchterlichen Krankheit sterben, von der kein Mensch je gehört hatte, während ihr
    Vater, der immer nur gelogen und betrogen und es sich zum Beruf
    gemacht hatte, Killer und andere miese Typen vor dem Knast zu
    bewahren, bei bester Gesundheit war. Wo war da bitte die Gerechtigkeit?
    Langsam, eine Hand an die Wand gestützt, stieg Kim die Treppe am
    Ende des schlecht beleuchteten Raums hinunter. Im Hintergrund sang
    John Denver von der Herrlichkeit der Natur. Klar , dachte Kim , als sie die Tür zu der kleinen Damentoilette am Fuß der Treppe aufstieß. Der arme Kerl singt sein Leben lang über Berge und Sonnenschein und die
    Freuden des einfachen Lebens, und was passiert? Dem Testflugzeug , mit dem er unterwegs ist , geht der Treibstoff aus , es stürzt ins Meer , und er ist auf der Stelle tot. Erzähl mir einer was von Gerechtigkeit.
    Kim trat in die einzige Kabine , klappte den Toilettendeckel herunter und setzte sich. Sie musste nicht pinkeln. Sie brauchte eine Zigarette.
    Und nicht so eine blöde normale Zigarette , sondern eine von der besonderen Sorte , die Teddy ihr am Wochenende gedreht hatte. »Komm raus , los , zeig dich« , murmelte sie , während sie in ihrer großen schwarzen Ledertasche kramte. Auf ihrem Grund stieß sie schließlich auf mehrere lose Joints und steckte sich einen zwischen die Lippen. »Was ist? Hast du was zwischen den Zähnen?«, äffte sie ihren Vater nach, als sie sich die nachlässig gedrehte Zigarette anzündete , und lachte, noch bevor sie den ersten Zug tat. Dann sog sie den Rauch tief ein und spürte das Brennen in ihrer Lunge, als sie volle fünf Sekunden die Luft anhielt , genau wie Teddy es ihr gezeigt hatte. »Alle meine Probleme lösen sich in Rauch auf« , sagte sie und ließ langsam ihren Atem entweichen , während der süßliche Geschmack des Marihuanas auf ihrer Zunge zurückblieb.
    Sie nahm noch einen Zug , lehnte sich an die Rohre vor der
    krankenhausgrünen Wand und versuchte , sich zu entspannen. Teddy hatte Recht. Nur zwei Züge , und schon taten die Worte ihres Vaters nicht mehr halb so weh. Jake Hart , Herr über Selbstgerechtigkeit und mildernde Umstände. Noch ein Zug , und nichts, was er sagte, würde sie mehr verletzen können. Noch ein paar mehr, und es würde vielleicht
    sogar die Gerechtigkeit zurückkehren. Mein Job ist es nicht, für
    Gerechtigkeit zu sorgen, hatte er gesagt und dazu Sherlock Holmes oder so jemanden zitiert. Sein Job war es, das Spiel nach den Spielregeln zu spielen. Aber genau das tat er ja nicht. Die Spielregeln in der Ehe verlangten Treue, Loyalität, Liebe. Hier hielt sich Jake Hart überhaupt nicht an die Regeln.
    Kim schloss die Augen und genoss die Anspannung in ihrem
    Brustkorb. Warum hatte ihre Mutter überhaupt zugelassen , dass ihr Vater nach Hause zurückkehrte? Sie brauchten ihn doch gar nicht. Sie selbst konnte sich um ihre Mutter kümmern , bis es dieser wieder besser ging. Es würde ihr ganz bestimmt wieder besser gehen , auch wenn Kim vorhin etwas anderes gesagt hatte. Die Tabletten, die sie einnahm,
    schienen zu wirken. Sie hatte keine Schmerzen. Sie sah toll aus.
    Manchmal schlief ihr der Fuß ein und sie verlor die Balance, oder sie ließ was fallen, aber das konnte schließlich jedem passieren. Nie im Leben würde es dazu kommen , dass ihre Mutter eines Tages nicht mehr laufen, nicht mehr sprechen , nicht mehr schlucken konnte , wie die Ärzte das behauptet hatten. Außerdem waren die Forscher ganz , ganz nahe daran, ein Heilmittel zu entdecken – das hatte ihre Mutter selbst gesagt. Sie hätten gut ohne ihren Vater fertig werden können.
    Draußen kam jemand die Treppe herunter. Kim lauschte. Sie hörte,
    wie die Tür zur Toilette geöffnet wurde und zufiel, bückte sich und sah ein Paar hochhackige Schuhe und wohlgeformte Waden in dem
    schmalen Raum zwischen der Toilettenkabine und dem Waschbecken.
    Sie stand auf, hob den Deckel und warf den Rest ihrer Zigarette ins Klo.
    Dann betätigte sie die Spülung und sah zu, wie der Stummel in die Tiefe gesogen wurde. Mit hektischem Händewedeln versuchte sie, den Rauch
    aus der kleinen Kabine zu vertreiben. Erst als sie den Eindruck hatte, die Luft sei wieder klar, wagte sie sich hinaus.
    Sie erkannte die Frau sofort , die neben dem Waschbecken wartete. Es war die Staatsanwältin , die ihrem Vater zugewinkt hatte, Jess Cousins oder Costner oder so ähnlich. Kim sah sie

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