Zähl nicht die Stunden
Mein Job ist es, das Spiel nach den Spielregeln zu spielen.«
»Dann ist das nichts als ein Spiel für dich?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Entschuldige , so hatte ich es verstanden.«
»Willst du damit sagen , dass es bei dir für mildernde Umstände keinen Platz gibt?«, fragte ihr Vater.
Kim zog ein Gesicht. Was redete er jetzt wieder. »Was soll das sein?«
»Mildernde Umstände« , wiederholte ihr Vater. »Umstände , die eine gewisse Rechtfertigung dafür liefern , dass –«
»- man seinem Mann sechsmal in den Rücken schießt? Gut , dass Mama keine Pistole hatte.«
Ihr Vater wurde blass. Er krümmte sich, beinahe als hätte ihn selbst ein Schuss getroffen. »Ich sage ja nur, dass die Dinge nicht immer so klar und eindeutig sind. Manchmal gibt es gültige Gründe-«
»Jemanden zu töten? Da bin ich anderer Meinung. Und ich finde es
abstoßend, dass du so denkst.«
Kim machte sich auf einen Zornesausbruch ihres Vaters gefasst.
Stattdessen jedoch sah sie ein kleines Lächeln um seine Mundwinkel.
»Wie war’s mit ›grausam und ungesund‹?«, fragte er.
»Was?«
»Entschuldige. Es sollte ein Witz sein.«
»Ein Witz auf meine Kosten?«
»Entschuldige«, sagte ihr Vater wieder, und sie musste plötzlich gegen Tränen kämpfen. Dabei hatte sie doch von ihrem Vater einen Ausbruch
erwartet, nicht von sich. »Wirklich, Kimmy, ich wollte dich nicht
verletzen.« »Wer sagt , dass du mich verletzt hast? Glaubst du vielleicht, ich gebe was auf deine Meinung?«
»Ich gebe etwas auf deine«, erwiderte ihr Vater.
Kim lachte einmal kurz und spöttisch, dann sah sie weg und
konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf den jungen Mann, der hinter dem Tresen arbeitete. Sie beobachtete ihn, während er einem der Gäste ein Glas Whisky eingoss, starrte ihn weiter an, während er den Tresen
abwischte, jemand anderem einen Wodka einschenkte. Es dauerte nicht
lange, da bemerkte er Kims Blick und lächelte. Kim machte etwas mit Zunge und Lippen, von dem sie hoffte, es würde sexy und
herausfordernd wirken.
»Ist was?«, fragte ihr Vater. »Hast du was zwischen den Zähnen?«
»Wie? Wovon redest du?«
Der Kellner brachte die Getränke. »Die Sandwiches kommen auch
gleich«, sagte er.
»Ich kann’s kaum erwarten«, versetzte Kim, während sie die Frauen
und Männer am Tresen musterte. »Wer ist das?«, fragte sie, als eine gut aussehende Frau am Ende der Bar in ihre Richtung winkte. »Eine von
deinen Freundinnen?«
»Das ist Jess Koster« , antwortete ihr Vater ruhig. Aber Kim bemerkte sehr wohl das feine Zucken eines Muskels an der Schläfe. Er hob die Hand und erwiderte das Winken. »Sie ist Staatsanwältin.«
»Sie ist sehr hübsch.«
Ihr Vater nickte.
»Hast du schon mal mit ihr geschlafen?«
»Was?«
Ihrem Vater wäre beinahe die Kaffeetasse aus der Hand gefallen.
»Hast du schon mal mit ihr geschlafen?« , wiederholte sie und stellte sich vor , ihr Vater würde über den schmalen zerschrammten Tisch springen , der zwischen ihnen stand, ihr an die Gurgel gehen und ihr den Hals so lange zudrücken, bis kein Funken Leben mehr in ihrem Körper war.
Worauf würde er unter der Anklage, sein einziges Kind ermordet zu
haben, plädieren? Vorübergehend unzurechnungsfähig? Notwehr?
Mildernde Umstände?
»Mach dich nicht lächerlich«, sagte ihr Vater, und seine Worte trafen sie viel schmerzhafter , als ein körperlicher Angriff das gekonnt hätte.
Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schössen, und senkte den Kopf, ehe ihr Vater etwas merkte. Hastig stand sie auf, nahm ihre
schwarze Ledertasche und sah sich ratlos im Raum um.
»Was tust du da? Wo willst du hin?«, fragte ihr Vater.
»Wo ist die Toilette?«, fragte Kim den Kellner, als dieser ihre
Sandwiches brachte.
Der Mann wies mit dem Kinn zum hinteren Ende des Raums. »Die
Treppe runter«, rief er ihr nach.
Kim ging schnell. Raum und Menschen verschwammen in ihren
Tränen. So was Gemeines, dachte sie. Wie konnte er sie so
geringschätzig behandeln? Ihre Frage war vielleicht unverschämt
gewesen, aber das gab ihm noch lange nicht das Recht, sich über sie lustig zu machen und sie als lächerlich zu bezeichnen. Sie war nicht lächerlich. Der Lächerliche war er mit seinem spießigen blauen Anzug und dem angepappten Haar, mit seinem überlegenen Grinsen und
seinem allwissenden Getue. Hielt ihr einen Vortrag über Recht und
Gerechtigkeit, wo doch jeder wusste, dass es keine Gerechtigkeit gab.
Wenn es sie gäbe, dann müsste
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