Zähl nicht die Stunden
klingt gut. Ich nehme es«, sagte Jake, klappte die Speisekarte zu und sah den Kellner lächelnd an.
Kim fragte sich, ob ihr Vater es darauf anlegte , sie zu ärgern.
»Zwei Geflügelsalat-Sandwiches?« , fragte der Kellner.
»Nein!« Kim schrie beinahe. »Oder doch , okay , bringen Sie mir auch eines. Aber machen Sie’s mit fettarmer Mayonnaise.«
»Fritten oder Salat?«, fragte der Kellner Jake, ohne auch nur einen Blick an Kim zu verschwenden.
»Fritten« , sagte Jake.
»Salat« , sagte Kim, obwohl die Pommes frites auf dem Nachbartisch köstlich dufteten. »Und würden Sie mir die Salatsoße bitte extra
bringen?«
»Etwas zu trinken?«, fragte der Kellner Jake.
»Kaffee.«
»Diätcola«, bestellte Kim.
»Ich habe irgendwo gelesen, dass diese Diätlimonaden gar nicht
gesund sind«, bemerkte Jake, nachdem der Kellner kopfschüttelnd
gegangen war.
»Das Gleiche habe ich über Kaffee gelesen« , gab Kim zurück. Jake lächelte, und Kim fragte sich irritiert, warum. Sie hatte nichts Komisches oder Originelles gesagt. Ihre Bemerkung war nicht einmal freundlich gewesen. Wollte er sie ganz bewusst herausfordern? Erst schleppte er sie aufs Gericht, wo sie zusehen musste, wie er so einen armen Kerl im
Zeugenstand fertig machte, bis der Dummkopf mit eingekniffenem
Schwanz Leine zog, obwohl er doch derjenige war, auf den geschossen
worden war, und das gleich sechsmal! Und dann gab er ihr die Wahl
zwischen der Gerichtskantine und dieser miesen Spelunke hier. Wer
hatte schon mal von einem Imbiss mit Bar gehört, wo sich Anwälte mit Pennern am Tresen herumdrückten, nur durch die Klamotten
voneinander zu unterscheiden.
»Was hast du eigentlich heute Morgen getrieben, als du so lange
verschwunden warst?«, fragte ihr Vater.
»Es war überhaupt nicht lang.«
»Fast eine halbe Stunde«, sagte ihr Vater.
Kim seufzte und schaute zur Tür. »Ich brauchte frische Luft.«
»Frische Luft oder eine Zigarette?«
Kims Blick flog zu ihm. »Wer sagt, dass ich geraucht hab?«
»Das braucht mir niemand zu sagen. Ich rieche den Rauch in deinen
Haaren bis hierher.«
Kim wollte protestieren, ließ es dann aber sein. »Und?«, fragte sie trotzig.
»Du bist noch nicht einmal sechzehn. Du weißt, wie gefährlich das
Rauchen ist.«
»Ach, du meinst, ich werde eines Tages dran sterben?«
»Kann schon sein.«
»Mama hat nie geraucht.«
»Das stimmt.«
»Und sie muss sterben«, sagte Kim in sachlichem Ton, obwohl es sie
Anstrengung kostete, die Worte auszusprechen.
»Kim –«
»Ich will nicht drüber reden.«
»Ich finde, wir sollten aber darüber reden.« »Aber nicht jetzt.«
»Wann dann?«
Kim zuckte die Achseln. »Hab ich was Interessantes verpasst, als ich draußen war?«, fragte sie. »Hast du noch einen anderen arglosen Idioten auseinander genommen.«
Ihr Vater schien ehrlich erstaunt. »Siehst du das so?«
»Ist es denn nicht so?«
»Ich dachte immer, ich versuche, der Wahrheit auf den Grund zu
gehen.«
»Die Wahrheit ist, dass deine Mandantin ihrem Mann sechsmal in den
Rücken geballert hat.«
»Die Wahrheit ist, dass meine Mandantin sich zu dem Zeitpunkt in
einem Zustand hysterischer Dissoziation befand.«
»Die Wahrheit ist, dass deine Mandantin die ganze Sache geplant
hatte.«
»Es war vorübergehende Zurechnungsunfähigkeit.«
»Es war kaltblütiger Vorsatz.«
Verblüffenderweise lächelte ihr Vater. »Du würdest eine ziemlich gute Anwältin abgeben«, sagte er.
Kim hörte den Stolz in seinem Ton. »Kein Interesse«, sagte sie
schnippisch und freute sich, als er zusammenzuckte. »Ich meine, mal ehrlich – wie kannst du solche Leute verteidigen? Du weißt doch, dass die Frau schuldig ist.«
»Glaubst du denn, dass alle Menschen, denen ein Verbrechen
vorgeworfen wird, schuldig sind?«
»Die meisten bestimmt.« Glaubte sie das wirklich, fragte sich Kim.
»Selbst wenn das zuträfe«, entgegnete Jake, »müssen wir uns an unser Rechtssystem halten, das vorsieht, dass jeder Bürger ein Recht auf
bestmögliche Verteidigung vor Gericht hat. Wenn die Anwälte anfingen, sich als Richter und Geschworene aufzuspielen und sich weigerten,
solche Menschen zu verteidigen, die sie für schuldig halten, würde das ganze System aus den Fugen gehen.« »Es geht doch sowieso schon aus
den Fugen. Schau dich an –du kriegst doch dauernd Schuldige frei.
Nennst du das vielleicht Gerechtigkeit?«
»Um Oliver Wendell Holmes zu zitieren – mein Job ist es nicht , für Gerechtigkeit zu sorgen.
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