Zähl nicht die Stunden
an und lächelte. Die Frau erwiderte ihren Blick, aber sie lächelte nicht. Saure Gurke, dachte Kim, während sie sich die Hände wusch , obwohl das gar nicht nötig war , und ging danach ohne einen Blick zurück hinaus.
»Alles in Ordnung?« , fragte ihr Vater , als sie sich wieder an den Tisch setzte.
Kim nickte und versuchte, sich auf das Sandwich auf ihrem Teller zu
konzentrieren. Aber es waberte ständig auf und nieder, mal glasklar, mal völlig verschwommen, und sie hatte größte Mühe, es fest ins Auge zu fassen.
»Ich hab dir ein paar Fritten aufgehoben«, sagte ihr Vater.
Kim schüttelte den Kopf und wünschte augenblicklich, sie hätte es
nicht getan. Einen Moment lang drehte sich alles um sie herum. Sie hob das Sandwich zum Mund und biss kräftig hinein. »Schmeckt gut«, hörte sie sich sagen, als gehörte die Stimme einer anderen.
»Kimmy, mein Kind«, sagte ihr Vater, »ich weiß, dass du jetzt schwere Zeiten durchmachst. Ich möchte dir nur sagen, dass ich für dich da bin, wenn du reden willst.«
»Ich hab dir doch vorhin schon gesagt, dass ich nicht drüber reden
will.«
»Aber ich will«, entgegnete ihr Vater, und Kim lachte laut heraus.
»In Wirklichkeit meinst du also, dass ich für dich da bin, wenn du reden willst.« Sie lachte wieder, stolz auf ihre Schlagfertigkeit.
»Kim, geht es dir nicht gut?«
»Doch, mir geht’s prima.« Kim biss wieder in ihr Sandwich. Ein wenig Mayonnaise rann ihr über das Kinn. »Das schmeckt wirklich gut«, sagte sie. »Bei Fredo kriegt man echt ein Spitzen sandwich.«
»Ich weiß, du bist durcheinander, weil ich nach Hause
zurückgekommen bin.«
»Warum bist du überhaupt zurückgekommen?« Kim war selbst
überrascht, wie aggressiv die Frage klang, die sie eigentlich gar nicht hatte stellen wollen. »Und sag jetzt bloß nicht, du hättest es für mich getan.«
Es folgte eine lange Pause.
»Weißt du denn überhaupt, warum du zurückgekommen bist?«, fragte Kim und sagte dann: »Ach, lass nur. Es ist nicht mehr wichtig. Du bist wieder zu Hause. Die Frage ist rein akademisch. So sagt man doch, nicht wahr?« Sie griff zur zweiten Hälfte ihres Sandwichs.
»Du bist sehr zornig , Kim. Ich kann das verstehen.«
»Du verstehst gar nichts. Du hast nie was verstanden.«
»Wenn du mir eine kleine Chance gäbst –«
»Weißt du was?« Kim knallte den Rest ihres Sandwichs auf den Teller, dass es spritzte. »Wenn meine Mutter damit einverstanden war, dass du nach allem, was du getan hast, zurückkommst, dann ist das ihre Sache.
Ich hab ihr gesagt, was ich davon halte, aber sie war offensichtlich anderer Meinung. Was blieb mir da anderes übrig, als klein beizugeben.
Was Jake Hart will, das kriegt er auch. Hat er Lust fremdzugehen, dann geht er fremd. Hat er Lust abzuhauen, dann haut er ab. Hat er Lust
zurückzukommen, dann kommt er zurück. Meine einzige Frage ist, wie
lange du vorhast zu bleiben, wenn es Mama wieder besser geht.« Kim
versuchte , ihr Brot wieder zusammenzuklappen und die herausgefallenen Fleischstücke zwischen die Scheiben zu drücken.
»Kim , Schatz, es wird ihr nicht wieder besser gehen.«
»Das weißt du doch gar nicht.« Kim sah ihren Vater nicht an. Sie
wusste, wenn sie ihn ansähe, würde sie ihm womöglich das zermanschte Brot ins Gesicht werfen.
»Ihr Zustand wird sich verschlechtern.«
»Ach, Arzt bist du auch noch!«
»Wir müssen versuchen zusammenzuhalten, Kim. Wir –«
»Ich hör dir gar nicht zu.«
»- müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um deiner Mutter das Leben angenehm zu machen und dafür zu sorgen, dass sie glücklich ist.«
»Um dein Gewissen zu beruhigen?«, schoss Kim zurück. »Damit du
dich gut fühlen kannst?« »Vielleicht«, bekannte ihr Vater. »Ja, vielleicht spielt das auch eine Rolle.«
»Es ist das Einzige, was für dich eine Rolle spielt , und das weißt du auch ganz genau.«
Ihr Vater rieb sich die Stirn , schüttelte den Kopf , stützte schließlich das Kinn in die offene Hand. »Du hasst mich wirklich, nicht wahr?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Kim zuckte wieder einmal mit den Achseln. »Gehört es nicht dazu,
dass Kinder ihre Eltern hassen?«, fragte sie. »Du hast deine doch auch gehasst.«
»Das stimmt« , bestätigte er.
Kim wartete darauf, dass er sich verteidigen, ihr den Unterschied
zwischen ihrer und seiner Situation aufzeigen würde, aber er sagte nichts.
Ihr Vater sprach fast nie von seiner Kindheit. Kim wusste, dass er und seine Brüder
Weitere Kostenlose Bücher