Zaehme mich
Trost gab es nicht mehr, denn jetzt gab es jemanden, den sie so liebte. Innerlich erstarrt hing Jamie quälenden Gedankengängen nach, die völlig lächerlich waren. Doch obwohl er wusste, wie lächerlich sie waren, konnte er nicht damit aufhören. Er hasste Shelley, er hasste sich selbst, er hasste Daniel Carr, und manchmal hasste er sogar Bianca. Sarah hasste er nie, wenngleich er es natürlich hätte tun müssen.
»Ich ziehe zu ihm.« In Sarahs Stimme lag der pseudofröhliche Ton, mit dem einem die Leute schlechte Nachrichten als gute verkaufen wollen.
»Wann?«
Sie murmelte etwas, das nach »Heute« klang.
»Wann?«, wiederholte er.
Sie sprach deutlicher. »Heute.«
»Heute.« Jamie starrte auf ihre Finger. Ihre Nägel waren bis zum Fleisch abgebissen, wie seine. Doch Sarah hatte früher nie an ihren Fingernägeln gekaut. Sie feilte und pflegte sie immer, um eine vollkommene weiße Mondsichel an der Spitze zu haben.
»Ja, heute Abend.«
»Heute Abend?«
»Ja, das heißt … ich muss packen, ich muss fertig sein.«
»Du musst fertig sein.« Jamie starrte weiter auf ihre abgebissenen Fingernägel. Die Nägel eines verängstigten, frustrierten, ohnmächtigen Menschen. Die Nägel eines Menschen, der sich mit letzter Kraft über Wasser hielt.
»Sprich mir nicht immer alles nach!«
Jamie blickte auf. »Entschuldige, das hab ich gar nicht bemerkt.«
»Ja, also …« Sarah deutete ein Lächeln an. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Klar. Wieso nicht?«
Dann küsste ihn Sarah. Weich, süß, so sanft, so warm.
So viele Jahre seines Lebens hatte er von solchen Küssen geträumt. Er hatte sie im Klassenzimmer beobachtet und sich vorgestellt, wie sie sein Kinn berührte und sich mit offenen Lippen zu ihm beugte. Er hatte sie beim Fußball, beim Querfeldeinlaufen und beim Schwimmen beobachtet und sich ausgemalt, was ihre natürliche, fröhliche Sportlichkeit für einen Jungen bedeuten musste, den sie liebte. Er hatte gesehen, wie sie von Männern betatscht, herumgezerrt und -geschubst wurde, und sich gedacht, dass er sie ganz anders behandeln würde. Er schwor sich, sie nie grob zu behandeln, falls er jemals mit ihr schlief.
Wenn er je dieses Glück haben sollte, durfte er ihr niemals wehtun, nicht einmal aus Leidenschaft.
Jetzt hatte er seine verträumte, sehnsuchtsvolle Jugend hinter sich gelassen, er war ein Mann und hatte viele Male mit Sarah geschlafen. Viele Male auf viele Arten, und er hatte ihr nie wehgetan, auch wenn er verstand, was die Männer dazu trieb. Sarah übte eine unwiderstehliche Anziehung auf sie aus mit ihrem flauschigen Haar, ihrem wissenden Mund und ihrer unersättlichen Möse. Die Männer waren ihr dankbar und fühlten sich zugleich ausgenutzt. Und sie war so ungeniert, so verdammt hochmütig, dass man sie zwingen wollte, einen ernst zu nehmen. Es war ein instinktives Bedürfnis, ihr zu beweisen, dass sie ihren Meister gefunden hatte, dass man ein stärkerer, besserer Mann war, ein Mann, wie sie noch keinem begegnet war. Man war ein Mann, der sie dazu bringen konnte, dass nicht er sie anflehte, sondern sie ihn.
Wenn man sie in den Armen hielt, wollte man wissen, dass sich hinter dem Panzer ihrer Liebestechniken und dem Schreien ihres schamlosen Mundes so etwas wie Ehrfurcht vor einem verbarg. Es war ein starker, mächtiger Drang, und Jamie spürte ihn jetzt, so wie er ihn jedes Mal gespürt hatte, wenn sie ihn berührte.
Aber er war nicht so wie die anderen Männer. Er hatte sie gekannt, als sie süß und gut ernährt war. Er hatte sie gekannt, bevor sie gevögelt wurde, und das machte einen großen Unterschied. Deshalb würde er ihr nie wehtun und sich nie von seiner Lust oder seiner Eitelkeit hinreißen lassen. Er würde sie immer so wie jetzt küssen – genauso wie jetzt –, denn egal, was ihr dieses Monster auch eingeredet hatte, wahre Liebe war nicht egoistisch und grausam. In der wahren Liebe hatten weder Blut noch Verachtung etwas zu suchen.
»Warum musst du gehen?«, fragte Jamie, der sie immer noch küsste.
»Es ist einfach so.«
Jamie fing wieder an zu weinen, und es war, als würde sie es nicht bemerken, doch sie bemerkte es natürlich. Sie war einfach nicht die Art von Frau, die große Rücksicht auf Schmerzen nahm. Sie küsste ihn weiter, massierte ihm den Rücken und dann die Haut über seinem Hosenbund.
Massierend und küssend ignorierte sie die heißen Tränen, die ihre Wimpern an seine Wangen klebten.
»Wohin bringt er dich?«
»Nicht weit.«
Immer noch
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