Zaertlich ist die Nacht
verändert, die Konsultation findet morgen früh statt. Jetzt will er dringend seine Tochter sehen – Ihre Frau. Offenbar gab es da irgendwann Streit –«
»Darüber weiß ich Bescheid.«
Die beiden Mediziner sahen sich nachdenklich an.
|377| »Warum reden Sie nicht mit ihm, ehe Sie sich entscheiden?«, schlug Dangeu vor. »Sein Tod wird friedlich sein – ein bloßes Schwächerwerden und Sinken.«
Mit einiger Mühe stimmte Dick zu.
»In Ordnung.«
Die Suite, in der Devereux Warren friedlich schwächer wurde und sank, hatte die gleiche Größe wie die von Señor Pardo y Ciudad Real. Im ganzen Hotel gab es zahlreiche Räumlichkeiten, in denen reiche Wracks, flüchtige Gesetzesbrecher und Thronanwärter mediatisierter Fürstentümer von Opiumderivaten und Barbituraten lebten und sich die hässlichen Melodien alter Sünden anhörten, die ununterbrochen vor sich hindudelten wie eine Lautsprecheranlage, der man nicht ausweichen kann. Dieser Winkel Europas zog die Leute nicht direkt an, aber er akzeptierte sie ohne alle unbequemen Fragen. Hier kreuzten sich die Wege von Leuten, die sich in verschwiegene Sanatorien oder Lungenheilanstalten 1* zurückziehen wollten, mit denen von Exilanten, die in Frankreich oder Italien nicht länger erwünscht waren.
Die Suite war verdunkelt. Eine Nonne mit frommen Zügen versorgte den Mann, dessen ausgemergelte Finger einen Rosenkranz auf der weißen Bettdecke hielten. Er sah immer noch gut aus, und in seiner kräftig brummenden Stimme war eine starke Persönlichkeit spürbar.
»Am Ende des Lebens fangen wir an zu begreifen«, sagte er, als Dangeu gegangen war und sie allein waren. »Erst jetzt wird mir klar, worum es eigentlich ging, Doktor Diver.«
Dick wartete ab.
»Ich bin ein schlechter Mensch gewesen. Sie wissen wahrscheinlich, dass ich eigentlich kein Recht habe, Nicole |378| noch einmal zu sehen, aber ein Größerer als wir sagt, wir sollen vergeben und mitleidig sein.« Der Rosenkranz entglitt seinen schwachen Händen und rutschte von der glatten Bettdecke. Dick hob ihn wieder auf. »Wenn ich Nicole nur zehn Minuten sehen dürfte, würde ich glücklich aus dieser Welt scheiden.«
»Das ist keine Entscheidung, die ich allein treffen kann«, sagte Dick. »Nicole geht es nicht gut.« Er hatte seine Entscheidung getroffen, tat aber so, als ob er noch zögere. »Ich kann es mit meinem Kollegen besprechen.«
»Was immer Ihr Kollege entscheidet, soll mir recht sein, Herr Doktor. Wissen Sie, ich stehe so tief in Ihrer Schuld –«
Dick stand rasch auf.
»Ich werde Ihnen das Ergebnis von Doktor Dangeu mitteilen lassen.«
Er kehrte in sein Zimmer zurück und rief die Klinik am Zuger See an. Nach einer langen Wartezeit meldete sich Käthe aus ihrer Dienstvilla.
»Ich muss mit Franz sprechen.«
»Franz ist auf dem Berg. Ich werde auch bald hinauffahren – kann ich ihm etwas ausrichten, Dick?«
»Es geht um Nicole – ihr Vater liegt hier in Lausanne im Sterben. Sag Franz das bitte, damit er weiß, dass es wichtig ist; er soll mich gleich anrufen.«
»Das mach ich.«
»Sag ihm, dass ich von drei bis fünf hier in meinem Zimmer auf seinen Anruf warte, und dann wieder von sieben bis acht. Danach soll er mich im Speisesaal ausrufen lassen.«
Während er diesen Zeitplan entwarf, vergaß Dick hinzuzufügen, dass Nicole nichts erfahren durfte, und als es ihm wieder einfiel, hatte Käthe schon aufgelegt. Aber sie würde wohl klug genug sein, um das zu wissen.
|379| Käthe hatte auch nicht wirklich die Absicht, Nicole von dem Telefonanruf zu erzählen, als sie auf den einsamen grünen Berg voller Wildblumen und frischer Winde hinauffuhr, wohin sie die Patienten im Winter zum Skifahren und im Sommer zum Wandern mitnahmen. Als sie aus dem Zug ausstieg, sah sie Nicole, die gerade dabei war, die Kinder bei einer organisierten Toberei anzuführen. Sie ging auf sie zu, legte Nicole sachte den Arm um die Schulter und sagte: »Du bist wirklich geschickt mit den Kindern. Im Sommer musst du ihnen Schwimmen beibringen.«
Beim Spiel war Nicole heiß geworden, und sie wich instinktiv so heftig vor Käthes Arm zurück, dass es schon beinahe unhöflich war. Käthes Hand fiel ungeschickt ins Leere, und dann reagierte sie genauso instinktiv: verbal und erbärmlich.
»Denkst du, ich hätte dich umarmen wollen?«, fragte sie beißend. »Es geht nur um Dick, ich habe mit ihm telefoniert und es tat mir so leid –«
»Ist was mit ihm?«
»Nein.« Käthe bemerkte erst
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