Zaertlich ist die Nacht
so etwas wahrscheinlich noch nie gesagt hatte. Dann sah sie sich unter den Leuten um, die sie nicht kannte, und fand wie üblich die stark neurotischen Typen, die so taten, als ob sie das ruhige Landleben liebten, obwohl sie doch bloß Angst vor der Stadt, ihren eigenen schrillen Stimmen und ihrem eigenen Umgangston hatten …
»Wer ist die Dame in Weiß?«, fragte sie.
»Die neben mir gesessen hat? Lady Caroline Sibly-Biers.«
Einen Augenblick hörten sie ihrer Stimme auf der anderen Seite des Gangs zu:
»Der Kerl ist ein Gauner, aber er gilt nun mal als großes Tier. Wir haben die ganze Nacht zu zweit Chemin-de-fer gespielt, und er schuldet mir tausend Schweizer Franken.«
Tommy lachte und sagte: »Sie ist jetzt die verruchteste Frau in London. Immer wenn ich nach Europa zurückkomme, gibt es eine neue Ernte verruchter Frauen in London. Sie gehört derzeit zur Spitzenklasse – obwohl ich glaube, dass es eine andere gibt, die fast genauso verrucht sein soll.«
Nicole warf einen zweiten Blick auf die Frau – sie war zerbrechlich und tuberkulös – es erschien kaum glaublich, dass solche schmalen Schultern und dünnen Arme die Standarte der Dekadenz tragen konnten, als letzte Bannerträgerin des verblassenden Empire. Eigentlich erinnerte sie mehr an John Helds flachbrüstige Flapper als an die Hierarchie der großen, trägen Blondinen, die den Malern und Schriftstellern in der Kriegs- und Vorkriegszeit als Ideal galten.
Golding näherte sich. Er versuchte vergeblich, den Widerhall seines gewaltigen Körpers zu unterdrücken, der wie ein mächtiger Verstärker wirkte, und obwohl es ihr innerlich |411| immer noch widerstrebte, musste Nicole sich seinen mehrfach wiederholten Erklärungen fügen, als er sagte, dass die »Margin« unmittelbar nach dem Dinner nach Cannes starten würde; dass für ein bisschen Kaviar und Champagner doch immer noch Platz sei, auch wenn man schon gegessen habe; dass Dick sowieso schon mit dem Chauffeur telefoniert und ihm gesagt hätte, er solle den Wagen von Nizza nach Cannes zum »Café des Alliées« fahren, wo die Divers ihn später abholen würden.
Sie gingen in den Speisesaal, und Dick wurde prompt neben Lady Caroline Sibly-Biers gesetzt. Nicole bemerkte, dass sein normalerweise gut durchblutetes Gesicht käseweiß war. Er sprach mit einer dogmatischen Stimme, die sie nur in Fetzen erreichte: »… für euch Engländer ist das schön und gut, ihr tanzt sowieso nur noch den Todestanz … Sepoys im zerschossenen Fort, 1* ich meine: Sepoys vor den Toren und rauschende Feste im Fort. Der Grüne Hut 2* ist zerquetscht, keine Zukunft.«
Lady Caroline antwortete ihm nur mit kurzen Bemerkungen wie dem tödlichen: »Was?«, dem zweischneidigen: »Genau!« oder dem deprimierenden: »Na denn, prost!«, das eigentlich immer einen Unterton von Gefahr hat, aber Dick schien die Warnsignale nicht zu bemerken. Er steigerte sich zu einer besonders vehementen Attacke, deren Stoßrichtung Nicole nicht erfasste, aber sie sah, dass die junge Frau plötzlich dunkelrot wurde und die Sehnen an ihrem Hals hervortraten. Dann hörte sie auch schon die scharfe Antwort: »Also Freunde sind immer noch Freunde, und Kumpel sind Kumpel.«
Dick hatte also wieder einmal jemand beleidigt. Konnte er denn seine Klappe nicht halten? Wie lange? Am besten gleich bis zum Tod.
|412| Am Klavier hatte ein blonder junger Schotte aus dem Orchester (auf dessen großer Trommel
The Ragtime College Jazzes of Edinboro
stand) mit einer monotonen Danny-Dever-Stimme zu singen begonnen, wobei er sich selbst mit leisen Akkorden begleitete. Er akzentuierte seine Worte so sorgfältig, als ob sie ihn unerträglich beeindruckten:
There was a young lady from hell,
Who jumped at the sound of a bell,
Because she was bad, bad, bad,
She jumped at the sound of a bell,
From hell (Boom, boom)
From hell (Toot, toot)
There was a young lady from hell –
»Was soll das denn sein?«, flüsterte Tommy in Richtung von Nicoles Ohr.
Die Antwort kam von dem Mädchen, das ihnen gegenüber saß: »Die Worte stammen von Lady Caroline. Er hat sie vertont.«
»Quelle enfantillage!«
, murmelte Tommy, als die nächste Strophe begann, die weitere Eigenheiten der schreckhaften Lady beschrieb.
»On dirait qu’il récite Racine!«
Zumindest oberflächlich schien Lady Caroline der Darbietung ihres Œuvres keine große Beachtung zu schenken. Nicole musste zugeben, dass die junge Frau sie beeindruckte, nicht wegen ihres Charakters
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