Zaertlich ist die Nacht
über dem Abgrund saß. Einen Moment lang sah sie ihm schweigend zu. Er dachte nach, er lebte in einer nur ihm gehörenden Welt, und im Spiel seiner Hände, in den kleinen Bewegungen seines Gesichts, seiner Augen und seiner Lippen konnte sie den Fortschritt der Geschichte in seinem Inneren verfolgen –
seiner
Geschichte, nicht ihrer. Einmal ballte er die Fäuste und beugte sich vor, einmal erschienen Qual und Verzweiflung auf seinen Zügen – und als es vorüber war, blieben die Spuren in seinen Augen zurück.
Fast zum ersten Mal in ihrem Leben tat er ihr leid – denn für Menschen, die seelisch krank sind, ist es schwer, Mitleid mit anderen zu empfinden, die seelisch gesund sind. Und obwohl Nicole oft genug sagte, dass Dick sie in die Welt zurückgeführt hätte, der sie schon entsagt hatte, hatte sie ihn immer nur als unerschöpfliche Quelle von |455| Energie wahrgenommen, die niemals versiegen konnte. Die Schwierigkeiten, die sie ihm machte, vergaß sie im selben Augenblick, wo ihre Schwierigkeiten vorbei waren.
Dass er sie nicht mehr beherrschte und kontrollierte – wusste er das eigentlich? Hatte er das bewusst herbeigeführt?
Plötzlich tat er ihr so leid, wie ihr Abe North manchmal leid getan hatte, und sie dachte an dessen unwürdiges Schicksal, an die Hilflosigkeit kleiner Kinder und alter Menschen. Sie trat zu ihm heran, legte ihm den Arm um die Schultern und berührte seine Wange mit ihrem Gesicht. »Sei nicht traurig.«
Er warf ihr einen kalten Blick zu. »Fass mich nicht an!«, sagte er.
Erschrocken wich sie ein paar Schritte zurück.
»Du musst entschuldigen«, sagte er geistesabwesend. »Ich habe gerade darüber nachgedacht, was ich von dir denke –«
»Du solltest ein neues Kapitel in deinem Buch daraus machen.«
»Ich habe daran gedacht: ›Jenseits von Psychosen, Neurosen und –‹«
»Ich bin nicht gekommen, um mit dir zu streiten.«
»Warum bist du denn
dann
gekommen, Nicole? Ich kann nichts mehr für dich tun. Ich versuche, mich selbst zu retten.«
»Hast du Angst, dass ich dich anstecken könnte?«
»Der Beruf bringt mich oft in fragwürdige Gesellschaft.«
Der Zorn über die Beleidigung trieb ihr die Tränen in die Augen. »Du bist ein Feigling! Du hast in deinem Leben versagt, und jetzt willst du mir die Schuld geben!«
Er gab keine Antwort, und solange er schwieg, spürte sie die alte hypnotische Kraft seiner Intelligenz, die zwar keine Macht mehr über sie hatte, aber so viele Schichten von |456| Wahrheit enthielt, dass sie keine Aussicht hatte, sie zu durchdringen oder zu brechen. Sie kämpfte dagegen an, bekämpfte Dick mit ihren scharfen, kleinen Augen, mit der schnöden Arroganz einer höheren Tochter, mit der beginnenden Übertragung an einen anderen Mann und dem aufgestauten Ressentiment vieler Jahre. Sie bekämpfte ihn mit ihrem Geld und der Gewissheit, dass ihn ihre Schwester nicht mochte, sondern sie jetzt unterstützte. Sie dachte daran, was er sich neuerdings für Feinde machte mit seinem Sarkasmus. Sie setzte ihre scharfe Zunge gegen sein behäbiges Genießen beim Essen und Trinken, ihre Fitness und Schönheit gegen seinen körperlichen Verfall, ihre Skrupellosigkeit gegen sein Moralisieren. Gerade auch ihre Schwächen setzte sie bei diesem inneren Kampf ein – tapfer und tollkühn kämpfte sie gegen die alten Konservendosen, Flaschen und Töpfe, in denen ihre längst abgebüßten Sünden, Skandale und Fehler aufbewahrt wurden.
Und siehe da, innerhalb von nur zwei Minuten errang sie ihren Sieg. Ohne Lüge, List oder Ausflucht gelang es ihr, sich vor sich selbst zu rechtfertigen und die Nabelschnur ein für allemal zu durchtrennen. Dann ging sie von ihm weg. Mit weichen Knien und kühlen Tränen zog sie sich in das Haus zurück, das ihr endlich gehörte.
Dick wartete, bis sie nicht mehr zu sehen war. Dann beugte er sich vor und legte seinen Kopf auf die Mauer. Der Fall war abgeschlossen. Doktor Diver war wieder frei.
10
Gegen zwei Uhr nachts wurde Nicole vom Telefon geweckt und hörte, wie Dick im Nebenzimmer den Hörer |457| abnahm. Er lag im »ruhelosen Bett«, wie sie das nannten.
»Oui, oui … mais à qui est-ce-que je parle?«
Seine Stimme klang überrascht. »Kann ich denn mit einer der Damen sprechen, Monsieur le Capitaine? Es handelt sich um Damen von Stand, sehr prominent, mit Beziehungen, die äußerst heikle diplomatische Verwicklungen auslösen könnten … Das ist eine Tatsache … Ich schwöre Ihnen … Na
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