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Zaertlich ist die Nacht

Zaertlich ist die Nacht

Titel: Zaertlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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wie in einem Korb. Die Hupe des vorausfahrenden Wagens wurde vom Widerstand der dichten Luft gedämpft. Bradys Chauffeur fuhr nicht schnell. Das Rücklicht des anderen Wagens war zunächst noch in einigen Kurven zu sehen   – und verschwand schließlich ganz. Aber nach etwa zehn Minuten kam es unverhofft |65| wieder in Sicht, weil der Isotta am Straßenrand stand. Bradys Chauffeur hielt kurz inne, gab dann aber wieder Gas, weil er sah, dass auch die anderen sich anschickten weiterzufahren. Als sie an der Limousine der Divers vorbeischnurrten, hörten sie Stimmengewirr und sahen den Chauffeur grinsen. Dann glitten sie weiter durch das Hell und Dunkel der Nacht, bis sie nach einer Serie von Achterbahnkurven schließlich hinunter zum massigen Körper des »Hotel Gausse« kamen.
    Rosemary schlief nur drei Stunden, danach lag sie wach und döste im Mondschein. Eingehüllt in erotische Dunkelheit erfüllte sie die Zukunft mit allen möglichen Szenen, die zu einem Kuss führen könnten, aber dieser selbst blieb so verschwommen wie die Küsse in Filmen. Sie veränderte ihre Lage im Bett   – das erste Zeichen von Schlaflosigkeit, das sie je erlebt hatte   – und versuchte, das Problem mit dem kühlen Kopf ihrer Mutter zu lösen. Bei dieser Methode war sie sehr scharfsinnig, denn sie erinnerte sich oft an Gespräche, die sie nur halb gehört hatte und die weit über ihre eigene Erfahrung hinausgingen.
    Rosemary war im Gedanken an Arbeit erzogen worden. Mrs Speers hatte die schmalen Hinterlassenschaften der Männer, die sie zur Witwe gemacht hatten, auf die Erziehung ihrer Tochter verwendet, und als diese mit sechzehn erblühte und dieses außergewöhnliche Haar hatte, fuhr sie nach Aix-les-Bains und marschierte unangekündigt mit ihr in die Suite eines amerikanischen Produzenten, der sich dort gerade erholte. Als der Produzent nach New York zurückkehrte, fuhren sie mit. So hatte Rosemary ihre Aufnahmeprüfung bestanden. Angesichts des anschließenden Erfolges und dessen zu erwartender Beständigkeit hatte Mrs Speers heute Abend keine Bedenken gehabt, ihre Tochter |66| stillschweigend wissen zu lassen: Du bist zur Arbeit erzogen und nicht notwendigerweise zum Heiraten. Jetzt hast du deine erste Nuss zu knacken, aber es ist eine gute Nuss. Lass dich darauf ein, und verbuche alles, was dir dabei widerfährt, als Erfahrung. Du kannst ihm wehtun oder dir selbst   – was auch immer geschieht, kann dich nicht beschädigen, denn ökonomisch gesehen bist du kein Mädchen, sondern ein Junge.
    Rosemary hatte nie sehr viel nachgedacht, außer über die unendliche Vollkommenheit ihrer Mutter, und daher störte das endgültige Durchtrennen der Nabelschnur ihren Schlaf. Als die falsche Dämmerung durch das hohe französische Fenster drang, stand Rosemary auf und trat barfuß auf die warme Terrasse hinaus. Geheime Geräusche erfüllten die Luft, und ein besonders hartnäckiger Vogel erkämpfte sich mit seinem regelmäßigen Schreien einen bösen Triumph in den Bäumen über dem Tennisplatz; auf der runden Auffahrt hinter dem Haus hörte man Schritte: erst auf der staubigen Straße, dann auf dem Kies und schließlich auf der Betontreppe, dann ging es in umgekehrter Reihenfolge wieder zurück. Jenseits der tintenfarbigen Bucht wohnten weit oben am schattenhaft schwarzen Abhang des Berges die Divers. Rosemary dachte daran, wie sie zusammen waren, und hörte noch immer ihre gemeinsame Melodie, eine zeitlich und räumlich entrückte Hymne, die sich wie schwacher Rauch in der Luft kräuselte. Ihre Kinder schliefen, das Tor war für die Nacht geschlossen.
    Rosemary trat in ihr Zimmer zurück und zog sich einen Morgenmantel und Espadrilles an, ehe sie wieder hinausging und auf der Terrasse rund um das Haus lief. Sie bewegte sich mit raschen Schritten, denn sie hatte bemerkt, dass noch andere, schlaferfüllte Zimmer auf die Terrasse |67| hinausgingen. Beim Anblick einer Gestalt, die auf der breiten, weißen Treppe am Haupteingang saß, blieb sie abrupt stehen. Dann sah sie, dass es Luis Campion war und dass er weinte.
    Er weinte leise und heftig und zitterte dabei an denselben Stellen wie eine Frau. Die Erinnerung an eine Szene in einer Rolle, die sie im letzten Jahr gespielt hatte, überfiel sie unwiderstehlich. Sie trat auf ihn zu und berührte ihn an der Schulter. Er schluchzte erschrocken auf, ehe er sie erkannte.
    »Was ist denn?« Ihre Augen blieben freundlich und ausgeglichen und bohrten sich nicht mit kantiger Neugier in ihn hinein.

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