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Zaertlich ist die Nacht

Zaertlich ist die Nacht

Titel: Zaertlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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geschlossen und manchmal erwartungsvoll und für die Welt halb geöffnet war, besaßen alle Möglichkeiten romantischer Liebe. Nicole war als junges Mädchen schon eine Schönheit gewesen, und sie würde auch später noch eine Schönheit sein, wenn ihre Haut sich straffer über die Wangen spannte   – die Grundstruktur war vorhanden. Sie war eine fast skandinavische, weißblonde Schönheit gewesen, und jetzt, wo ihre Haare dunkler waren, war sie noch attraktiver geworden als zu der Zeit, als ihr Haar wie eine Wolke um ihren Kopf schwebte und schöner war als sie selbst.
    »Da drüben haben wir gewohnt«, sagte Rosemary plötzlich und zeigte auf ein Haus in der Rue des Saints-Pères.
    »Das ist kurios«, sagte Nicole. »Denn als ich zwölf war, haben meine Mutter, meine Schwester Baby und ich genau gegenüber in diesem Hotel einen Winter verbracht.« Die beiden grauen Fassaden starrten sie an wie ein trübes Echo aus Kindertagen. »Wir hatten gerade die Villa in Lake Forest gebaut und haben gespart«, fuhr Nicole fort. »Baby und ich und die Gouvernante jedenfalls haben gespart, während meine Mutter gereist ist.«
    »Wir mussten auch sparen«, sagte Rosemary und merkte sofort, dass dieses Wort verschiedene Bedeutungen für sie hatte.
    »Mutter nannte es immer ein ›kleines‹ Hotel«   – Nicole stieß ihr schnelles, magnetisches Lachen aus   – »ich meine, sie wollte nicht sagen, dass es vor allem billiger war. Wenn irgendwelche schicken Freunde uns nach unserer Adresse fragten, sagten wir nie: ›Wir hocken in diesem kleinen Drecksloch im Gangsterviertel, wo man froh sein kann, |107| wenn man fließendes Wasser hat.‹ Wir sagten: ›Wir haben dieses kleine Hotel gefunden.‹ So als wären die großen Hotels uns zu laut und vulgär. Natürlich haben uns die Freundinnen alle durchschaut und allen Leuten davon erzählt, aber Mutter hat immer gesagt, das zeige nur, dass wir uns in Europa auskennen. Das traf für sie natürlich auch zu: Sie ist ja sogar in Deutschland zur Welt gekommen. Aber ihre Mutter war Amerikanerin, und aufgewachsen ist sie in Chicago. Sie war viel amerikanischer als europäisch.«
    In zwei Minuten wollten sie sich mit den anderen treffen, und Rosemary rang noch immer um Fassung, als sie in der Rue Guynemer gegenüber dem Jardin du Luxembourg aus dem Taxi stiegen. Sie wollten im bereits geräumten Appartement der Norths zu Mittag essen, hoch über dem grünen Blättermeer.
    Der Tag erschien Rosemary anders als der Tag gestern. Als sie Dick von Angesicht zu Angesicht sah, streiften sich ihre Blicke wie Vogelschwingen. Danach war alles gut, ja, sogar wunderbar, denn sie wusste jetzt, dass er dabei war, sich in sie zu verlieben. Sie war rasend glücklich und spürte ein flüssiges, heißes Gefühl, das durch ihren Körper gepumpt wurde. Eine tiefe, kühle, klare Zuversicht sang in ihrem Herzen. Sie sah Dick gar nicht an, und wusste doch, dass alles in Ordnung war.
    Nach dem Mittagessen fuhren sie alle zu den
Franco-American-Films
, wo sich auch Collis Clay, der junge Mann aus New Haven zu ihnen gesellte, den sie am Morgen angerufen hatte. Er kam aus Georgia und hatte die schlichten, etwas schablonenhaften Vorstellungen eines Südstaatlers, der im Norden studiert hat. Im letzten Winter hatte sie ihn ganz attraktiv gefunden und sogar mit ihm Händchen |108| gehalten, als sie von Yale nach New York fuhren; aber jetzt existierte er praktisch gar nicht mehr für sie.
    Im Vorführraum saß sie zwischen Collis Clay und Dick, während der Techniker die Spulen von ›Daddy’s Girl‹ einlegte und ein französischer Angestellter um sie herumhüpfte und amerikanischen Slang zu sprechen versuchte.
»Yes boy«
, sagte er, als es ein Problem mit dem Projektor gab.
»I have not any benenas.«
Dann gingen die Lichter aus, es folgten ein
klick!
und ein surrendes Geräusch, und dann war sie endlich mit Dick allein. Im Halbdunkel warfen sie sich einen Blick zu.
    »Liebe Rosemary«, murmelte er. Ihre Schultern berührten sich. Am Ende der Reihe bewegte Nicole sich unruhig in ihrem Sitz, während Abe zwanghaft hustete und sich die Nase putzte; schließlich saßen sie alle still, und der Film lief.
    Da war sie   – das Schulmädchen von vor einem Jahr, mit langem Haar, das über den ganzen Rücken herabreichte und steife Wellen warf wie das einer Terrakottafigur aus Tanagra. Da war sie   – so jung und unschuldig, das Produkt von mütterlich liebender Fürsorge. Da war sie   – und verkörperte die ganze

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