Zaertlich ist die Nacht
küsse.«
»Hör auf, mich zu necken – ich bin doch kein Baby. Ich weiß, dass du mich nicht liebst.« Sie war plötzlich ganz still und demütig. »Das hab ich auch gar nicht erwartet. Ich weiß, dass ich dir wie ein Nichts vorkommen muss.«
»Unsinn. Aber du kommst mir sehr jung vor.« Und in Gedanken fügte er noch hinzu: Es gäbe so viel, was man dich lehren könnte.
Rosemary wartete mit begierigem Atem, bis Dick schließlich sagte: »Außerdem sind die Dinge nicht so arrangiert, dass es geschehen könnte, wie du es willst.«
Ihr Gesicht fiel vor Enttäuschung und Bestürzung in sich zusammen, und Dick sagte ganz automatisch: »Wir müssen einfach –«
Dann unterbrach er sich, folgte ihr zum Bett und setzte sich neben sie, während sie weinte. Plötzlich war er verwirrt. Nicht wegen der ethischen Frage, denn die Unmöglichkeit war von allen Seiten deutlich beleuchtet, sondern |104| einfach verwirrt. Und für einen Moment hatte er sein Gleichgewicht, seine elastische Kraft und seine gewohnheitsmäßige Anmut verloren.
»Ich wusste, dass du es nicht tun würdest«, schluchzte sie. »Es war nur so eine verzweifelte Hoffnung.«
Er stand auf. »Gute Nacht, Kind. Eine verdammte Schande ist das. Lass es uns aus dem Bild streichen.« Als Schlafmittel gab er ihr noch zwei Krankenhaussprüche mit auf den Weg. »So viele Menschen werden dich noch lieben, und vielleicht ist es besser, wenn du deiner ersten Liebe ganz unberührt begegnest, auch emotional. Das ist eine altmodische Vorstellung, was?« Sie sah zu ihm hoch, als er den ersten Schritt in Richtung der Tür machte; sie betrachtete ihn, ohne die kleinste Ahnung davon, was in seinem Kopf vorging. In Zeitlupe sah sie, wie er den nächsten Schritt machte, sich umwandte, um sie noch einmal anzusehen, und einen Moment lang wollte sie ihn umarmen und auffressen. Sie wollte seinen Mund, seine Ohren, den Jackenkragen. Sie wollte ihn umfassen und einschließen. Dann sah sie seine Hand auf der Klinke, da gab sie auf und ließ sich aufs Bett zurückfallen.
Als sich die Tür schloss, stand sie auf, ging zum Spiegel und begann sich schniefend das Haar zu bürsten. Einhundertfünfzig Bürstenstriche, wie üblich, dann noch einmal hundertfünfzig und dann noch einmal. Rosemary bürstete ihr Haar, bis ihr der Arm wehtat, dann wechselte sie den Arm und bürstete weiter …
16
Beschämt und abgekühlt wachte sie auf. Der Anblick ihrer Schönheit im Spiegel beruhigte sie allerdings nicht, sondern |105| weckte nur den gestrigen Schmerz wieder, und der von ihrer Mutter an sie weitergeleitete Brief eines jungen Mannes, mit dem sie im letzten Herbst auf dem Abschlussball in Yale gewesen war und der jetzt seine Anwesenheit in Paris ankündigte, war auch kein Trost – das alles schien so weit weg. Als sie aus ihrem Zimmer trat, um sich der Feuerprobe einer Begegnung mit den Divers zu unterziehen, quälten sie eine doppelte Angst und Verwirrung. Aber beides war ebenso wie bei Nicole von einer undurchdringlichen Schutzschicht umgeben, als sie gemeinsam zur Anprobe verschiedener neuer Kleider gingen. Und es beruhigte sie, als Nicole angesichts einer verzweifelten Verkäuferin sagte: »Die meisten Leute denken, andere hätten ihretwegen viel heftigere Gefühle, als es tatsächlich der Fall ist. Sie bilden sich ein, man würde ständig zwischen heftiger Zustimmung oder Missbilligung schwanken.«
Gestern, in ihrem Gefühlsüberschwang, hätte diese Äußerung Rosemary wohl gekränkt, aber heute, in ihrem Bedürfnis, das Geschehene im Nachhinein zu verkleinern, begrüßte sie die Bemerkung begeistert. Sie bewunderte Nicole wegen ihrer Schönheit und Weisheit, und zum ersten Mal in ihrem Leben war sie auch eifersüchtig. In jenem beiläufigen Ton, hinter dem sie, wie Rosemary wusste, ihre bedeutsamsten Kommentare versteckte, hatte ihre Mutter kurz vor der Abreise aus dem »Hotel Gausse« noch geäußert, dass Nicole eine große Schönheit sei, was indirekt heißen sollte, dass Rosemary das nicht war. Rosemary, der man erst vor Kurzem die Erkenntnis gestattet hatte, dass sie zumindest ganz ansehnlich war, und die auch gar nicht das Gefühl hatte, dass ihr Aussehen ihr selbst gehörte, sondern es für etwas Erworbenes hielt – so wie ihre Französischkenntnisse – hatte das damals gar nicht gestört.
|106| Trotzdem musterte sie Nicole jetzt, als sie im Taxi saßen, und verglich sich mit ihr. Dieser wunderbare Körper und dieser zarte Mund, der manchmal fest
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