Zaertlich ist die Nacht
»Ich bin im ›Lutetia‹ abgestiegen.«
»
Wir
werden
Sie
absetzen«, sagte Dick.
»Es wäre einfacher, wenn ich Sie absetze. Gar kein Problem.«
»Ich glaube, es ist besser, wenn wir Sie absetzen.«
»Aber –« Plötzlich hatte Collis verstanden und begann mit Rosemary darüber zu verhandeln, wann er sie wieder sehen könnte. Dann endlich war er verschwunden, mit der schattenhaften Bedeutungslosigkeit und lästigen Sperrigkeit der überflüssigen dritten Partei.
Das Taxi hielt unerwartet und irgendwie unbefriedigend an der von Dick genannten Adresse, und er holte tief Luft. »Sollen wir hineingehen?«
»Ist mir egal«, sagte sie. »Ich mache alles, was du willst.«
Dick überlegte. »Eigentlich
muss
ich beinahe hineingehen – sie will ein paar Bilder von einem Freund von mir kaufen, der das Geld dringend braucht.«
Rosemary glättete eine kurze, auffällige Störung ihrer Frisur.
»Wir bleiben nur fünf Minuten«, entschied er. »Du wirst diese Leute nicht mögen.«
Sie nahm an, dass es sich um langweilige, flache, ekelhaft betrunkene, aufdringliche oder sonst irgendwie anstrengende Leute jener Art handelte, denen die Divers stets |112| aus dem Weg gingen. Auf die Gesellschaft, die sie dann vorfand, war sie ganz unvorbereitet.
17
Das Haus war äußerlich nach dem Vorbild des Palais von Kardinal de Retz in der Rue Monsieur gebaut, aber sobald man ins Innere kam, gab es nichts, was an die Vergangenheit oder irgendeine Gegenwart erinnert hätte, die Rosemary kannte. Die äußere Hülle des Mauerwerks umschloss vielmehr die Zukunft, und es war wie ein elektrischer Schlag, ein Nervenschock, wenn man die Schwelle überschritt und die lange Halle aus blauem Stahl, vergoldetem Silber und Myriaden von eigenartig verkanteten Spiegeln betrat. Es war so pervers wie ein Löffel Haferflocken mit Haschisch. Die Wirkung war noch intensiver als auf der Ausstellung der
Arts Décoratifs
, denn hier standen die Leute nicht staunend davor, sondern befanden sich mittendrin. Rosemary hatte das abgehobene, trügerische Gefühl, in einer Filmkulisse zu stehen, und vermutete, dass es allen anderen Besuchern genauso ging.
Es waren ungefähr dreißig Personen anwesend, vorwiegend Frauen, die alle von Louisa M. Alcott oder Madame de Ségur 1* hätten stammen können. Sie benahmen sich in dieser Umgebung so vorsichtig und geschickt wie eine menschliche Hand, die scharfzackige Glasscherben aufliest. Weder einzeln noch als Gruppe gelang es ihnen, den Raum so zu beherrschen, wie man ein Kunstwerk besitzt, auch wenn es noch so geheimnisvoll sein mag. Niemand wusste, was der Raum zu bedeuten hatte, denn er war immer noch dabei, sich zu entwickeln, zu etwas, das eigentlich gar kein |113| Raum war. Sich darin aufzuhalten war so schwierig, wie eine auf Hochglanz polierte Rolltreppe hinunterzulaufen, und niemand konnte es schaffen, der nicht mit der nötigen Vorsicht zu Werk ging – was die Mehrzahl der Anwesenden ziemlich einschränkte.
Es gab zwei verschiedene Sorten. Das eine waren die Amerikaner und Engländer, die in ihren Zerstreuungen lebten, und jetzt nach einem langen Frühjahr und Sommer nur noch auf nervöse Anregung warteten. Sie waren meist still und lethargisch, neigten aber dazu, sich plötzlich auf explosive Weise zu streiten, zusammenzubrechen und sich verführen zu lassen. Die andere Sorte waren die Schmarotzer und Ausbeuter, vergleichsweise nüchterne, ernsthafte Leute, die eine klare Absicht im Leben verfolgten und keine Zeit zum Herumalbern hatten. Sie konnten auch in dieser Umgebung noch die Balance halten, und was es jenseits der sensationellen Beleuchtung an Spannkraft in diesem Haus gab, kam eindeutig von ihnen.
Das Monster verschluckte Dick und Rosemary mit einem einzigen Biss – sie wurden voneinander getrennt und Rosemary entdeckte, dass sie eine unsichere kleine Person mit einer schrillen Kopfstimme war, die sich wünschte, dass endlich der Regisseur käme. Andererseits flatterten alle im Raum so wild durcheinander, dass ihre eigene Lage auch nicht prekärer als die aller anderen war. Außerdem machte sich jetzt ihr Training bemerkbar, und nach einer Serie von geradezu militärischen Kehrtwendungen, Eilmärschen und Positionswechseln fand sie sich in einer Art Gespräch mit einem adretten, sehr geschmeidigen jungen Mädchen mit blauen Augen und einem hübschen Jungensgesicht wieder, belauschte aber insgeheim eine Unterhaltung, die zwei Meter entfernt auf einer grauen Stahltreppe
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