Zaertlich ist die Nacht
Gesicht, das im Licht der im Regen untergehenden Sonne eine goldene Elfenbeinfarbe angenommen hatte, schien ihm wie ein gänzlich neues, unbekanntes Versprechen. |219| Die hohen Wangenknochen und die weniger fiebrige, als blasse, kühle Haut erinnerten an ein junges Fohlen – ein Geschöpf, bei dem nicht etwa eine Projektion der Jugend auf eine graue Leinwand geworfen wurde, sondern bei dem echtes Wachstum möglich war. Dieses Gesicht würde auch im mittleren Alter noch schön sein: Die Substanz und die Ökonomie dafür waren vorhanden.
»Warum schauen Sie so?«
»Ich habe gerade gedacht, dass Sie wahrscheinlich sehr glücklich sein werden.«
Nicole hatte Angst. »Werde ich das? Na ja – viel schlimmer als sie gewesen sind, können die Dinge nicht werden.«
In dem Holzschuppen, zu dem sie ihn geführt hatte, setzte sie sich in ihren Regenmantel gehüllt im Schneidersitz auf ihre Golfschuhe. Die feuchte Luft hatte ihre Wangen zum Leuchten gebracht. Ernsthaft begegnete sie seinem Blick und musterte seine etwas hochmütige Haltung, die sich dem Pfosten, an dem er lehnte, nie völlig anpasste. Offensichtlich versuchte er, seine Züge nach jedem Anflug von Spott oder Fröhlichkeit wieder zu disziplinieren und ein aufmerksam ernstes Gesicht aufzusetzen. Jenen Teil von ihm, der zu seinen rötlichen irischen Haaren gehörte, begriff sie am wenigsten. Sie fürchtete sich sogar ein bisschen davor, und war deshalb umso begieriger ihn zu erforschen, denn das war seine eher männliche Seite. Den anderen Teil, den geschulten Teil, zu dem die Rücksichtnahme in seinen höflichen Augen gehörte, nahm sie wie die meisten Frauen bedenkenlos in Besitz.
»Zumindest war dieses Institut zum Erlernen von Sprachen gut«, sagte sie. »Mit zwei von den Ärzten hab ich französisch gesprochen, mit den Krankenschwestern deutsch, eine Art Italienisch mit den Putzfrauen und einer Patientin, |220| und von einer anderen hab ich eine Menge Spanisch gelernt.«
»Das ist schön.« Er versuchte, eine vernünftige Haltung zu finden, aber eine innere Logik ergab sich nicht.
»– und Musik auch. Ich hoffe, Sie haben nicht gedacht, ich interessiere mich bloß für Ragtime. Ich übe jeden Tag – in den letzten Monaten habe ich einen Kurs in Musikgeschichte in Zürich belegt. Das war oft das Einzige, was mich in Gang gehalten hat – die Musik und das Zeichnen.« Sie beugte sich plötzlich vor und riss einen losen Streifen von ihrer Schuhsohle ab. Dann hob sie den Kopf. »Ich würde Sie gerne so zeichnen, wie Sie jetzt dastehen.«
Es machte ihn traurig, wie sie ihre Vorzüge anpries und seine Zustimmung suchte. »Sie sind zu beneiden«, sagte er. »Ich scheine mich in letzter Zeit für nichts anderes zu interessieren als meine Arbeit.«
»Ach, ich glaube, das ist auch gut so für einen Mann«, sagte sie rasch. »Aber ich finde, ein Mädchen sollte viele kleine Fertigkeiten besitzen, die sie an ihre Kinder weitergeben kann.«
»Da haben Sie wahrscheinlich recht«, sagte er mit größtmöglicher Gleichgültigkeit.
Nicole verstummte. Er wünschte sich, dass sie noch etwas sagen würde, damit er weiter die einfache Rolle des Miesmachers spielen könnte. Aber sie saß bloß noch da.
»Sie sind jetzt gesund«, sagte er. »Versuchen Sie, die Vergangenheit zu vergessen; ein Jahr lang sollten Sie sich vielleicht noch schonen. Gehen Sie nach Amerika zurück, seien Sie eine Debütantin, verlieben Sie sich – und werden Sie glücklich.«
»Ich könnte mich nicht verlieben.« Ihr beschädigter |221| Schuh kratzte einen Staubkokon von dem Holzklotz ab, auf dem sie saß.
»Aber natürlich können Sie das«, beharrte Dick. »Vielleicht nicht gleich im ersten Jahr, aber früher oder später durchaus.« Dann fügte er brutal hinzu: »Sie können ein völlig normales Leben führen mit einem Haus voller bildhübscher Nachkommen. Die Tatsache, dass Sie in Ihrem Alter eine so völlige Genesung geschafft haben, weist darauf hin, dass praktisch nur die äußeren Faktoren für Ihren Zustand verantwortlich waren. Junge Frau, Sie werden noch eine Stütze der Gesellschaft sein, wenn Ihre Freundinnen längst kreischend weggeschleppt worden sind.«
Sie schluckte die grausame Medizin, aber in ihren Augen sah man, wie es sie quälte. »Ich weiß, dass ich noch lange nicht geeignet bin, jemand zu heiraten«, sagte sie demütig.
Dick war viel zu durcheinander, um noch etwas zu sagen. Er schaute auf das Haferfeld hinaus, um seine harte, metallische
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