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Zaertlich ist die Nacht

Zaertlich ist die Nacht

Titel: Zaertlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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beachtet, weil es nie konkret angepackt wurde. Die Schwäche unseres Berufs besteht doch darin, dass er Menschen anzieht, die selbst ein bisschen verkrüppelt oder kaputt sind. Im Schutz der professionellen Beschäftigung mit der Materie kompensiert das der Betreffende dann, indem er sich dem Klinischen, also dem ›Praktischen‹ zuwendet   – auf diese Weise gewinnt er seine Schlacht, ohne zu kämpfen. Im Gegensatz dazu bist du ein tüchtiger Mann, Franz, weil das Schicksal dich schon zu diesem Beruf bestimmt hat, bevor du geboren wurdest. Du solltest Gott danken, dass du keine ›Neigung‹ gebraucht hast.   – Ich bin Psychiater geworden, weil es in St Hilda’s Hall in Oxford ein Mädchen gab, das diese Vorlesungen hörte. Vielleicht ist mein Konzept ja ein bisschen banal, aber ich will meine Ideen auch nicht bloß einfach mit ein paar Gläsern Bier wegspülen.«
    »Na schön«, sagte Franz. »Du bist Amerikaner. Du kannst so etwas tun, ohne beruflich Schaden zu nehmen. Ich mag solche allgemeinen Fragestellungen nicht. Bald schreibst du dann kleine Bücher mit Titeln wie ›Tiefe Gedanken für |214| Laien‹, die alles so stark vereinfachen, dass sie garantiert keine Gedanken mehr auslösen. Wenn mein Vater noch lebte, würde er dich ansehen und grunzen, Dick. Er würde seine Serviette nehmen und falten, und dann würde er seinen Serviettenring nehmen, genau diesen hier«   – er hielt ihn hoch und man sah, dass ein Eberkopf in das braune Holz geschnitzt war   – »und dann würde er sagen: ›Also, mein Eindruck ist   –‹ und dann würde er dich ansehen und plötzlich denken: ›Was soll’s?‹ Dann würde er innehalten und noch einmal grunzen; und das wäre das Ende der Mahlzeit.«
    »Heute stehe ich noch allein«, sagte Dick gereizt. »Aber morgen bin ich das vielleicht nicht mehr. Dann werde ich vielleicht auch meine Serviette falten wie dein Vater, und grunzen.«
    Franz wartete einen Augenblick. Dann fragte er: »Wie geht’s denn unserer Patientin?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Na ja, inzwischen solltest du sie aber schon etwas besser kennen.«
    »Ich mag sie. Sie ist attraktiv. Was willst du von mir? Soll ich sie in die Berge zum Edelweiß pflücken mitnehmen?«
    »Nein, ich dachte, du hättest vielleicht eine Idee, weil du ja so viele wissenschaftliche Bücher liest.«
    »Oder ihr gleich mein Leben widmen?«
    Franz rief zu seiner Frau auf Deutsch in die Küche hinaus:
»Du lieber Gott! Bitte bring Dick noch ein Bier.«
    »Ich will lieber nichts mehr, ich muss ja mit Dohmler reden.«
    »Wir glauben, es ist das Beste, wenn wir einen Behandlungsplan machen. Vier Wochen sind jetzt vergangen, und das Mädchen ist offensichtlich in dich verliebt. Das würde uns nichts weiter angehen, wenn wir in der realen Welt |215| draußen wären, aber hier in der Klinik steht für uns etwas auf dem Spiel.«
    »Ich werde das tun, was Professor Dohmler empfiehlt«, sagte Dick.
    In Wirklichkeit glaubte er allerdings nicht, dass Dohmler die Angelegenheit würde klären können; denn er, Dick, war das eigentlich unberechenbare Element in der Gleichung. Ohne, dass er es bewusst gewollt hätte, war die Entscheidung in seine Hände geglitten. Die Sache erinnerte ihn an ein Erlebnis in seiner Kindheit, als das ganze Haus nach dem Schlüssel zum Besteckkasten suchte und nur er wusste, dass er ihn unter den Taschentüchern seiner Mutter in der Kommode versteckt hatte. Auch damals hatte er eine geradezu philosophische Distanz zu den Dingen empfunden, und das wiederholte sich jetzt, als er mit Franz zu Professor Dohmlers Büro ging.
    Der Professor, dessen nobles Gesicht mit dem geraden Schnurrbart an die rankenbewachsene Veranda eines alten Herrenhauses erinnerte, entwaffnete ihn. Er kannte einige Menschen mit mehr Begabung, aber niemand, der Dohmlers Klasse gehabt hätte.
    – Dasselbe sollte er sechs Monate später wieder denken, als Dohmler tot und die Lichter auf der Veranda erloschen waren, als die Schnurrbart-Ranken seinen steifen Kragen kitzelten und die vielen Schlachten, die sich vor seinen schmalen Augen abgespielt hatten, für immer unter den zarten Lidern zur Ruhe gekommen waren.
    »Guten Morgen, Sir.« Dick nahm Haltung an, als wäre er wieder in der Armee.
    Professor Dohmler verschränkte seine ruhigen Finger. Franz begann seinen Vortrag halb wie ein Verbindungsoffizier |216| und halb wie ein Sekretär, bis sein Vorgesetzter ihn mitten im Satz unterbrach.
    »Wir haben gewisse Fortschritte erzielt«, sagte er

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