Zaertlich ist die Nacht
entfaltet hatte, und als Nicole wieder eingeschlafen war, hatte er sein Gesicht in den warmen Duft ihres Haares gebettet. Lange ehe sie aufwachte, hatte er vom Telefon des Nachbarzimmers aus alles geregelt. Rosemary war in ein anderes Hotel geschickt worden. Sie würde wieder ganz »Daddy’s Girl« sein und sogar darauf verzichten müssen, sich von ihnen zu verabschieden. Mr McBeth, der Besitzer des Hotels, würde sich wie die drei Affen verhalten. Dick und Nicole hatten ihre Koffer gepackt, umgeben vom Seidenpapier und den Schachteln ihrer zahlreichen Einkäufe, und schon kurz vor Mittag den Zug zur Riviera bestiegen.
Dann setzte die Reaktion ein. Dick spürte, dass Nicole schon darauf wartete, als sie sich in ihrem Schlafwagenabteil einrichteten, und sie kam auch: rasch und verzweifelt, noch ehe der Zug den Stadtrand passiert hatte. Dicks ganzer Instinkt verlangte von ihm auszusteigen, solange der Zug noch nicht seine volle Geschwindigkeit hatte, zurückzukehren und zu sehen, wo Rosemary war, was sie machte. Er nahm seinen Zwicker und schlug ein Buch auf, wobei er sich völlig bewusst war, dass Nicole ihn von der anderen Seite des Abteils aus beobachtete. Unfähig zu lesen, tat er so, als wäre er müde, und schloss seine Augen, aber sie beobachtete ihn weiter von ihrem Kopfkissen aus |257| und obwohl sie das Schlafmittel immer noch spürte, war sie doch erleichtert und beinahe glücklich, dass er jetzt wieder ganz ihr gehörte.
Mit geschlossenen Augen war es noch schlimmer, denn jetzt spürte er den Rhythmus der Räder, der zu sagen schien: finden, verlieren und finden, verlieren. Trotzdem blieb er still liegen, um nicht nervös zu erscheinen. Beim Mittagessen wurde es besser – das war immer eine schöne Mahlzeit. Tausend Mittagessen in Wirtshäusern, Restaurants, Speisewagen, Bahnhofsgaststätten und Flugzeugen waren eine große gemeinsame Mahlzeit. Die wohlvertraute Eile der Kellner, die kleinen Flaschen mit Wasser und Wein und das hervorragende Essen im
Paris-Lyon-Méditerranée
erzeugten die Illusion, dass alles wie sonst war, aber es war die erste Reise mit Nicole, die von etwas weg, statt zu etwas hin führte.
Er trank eine ganze Flasche Wein, von der Nicole nur ein einziges Glas abbekam; sie redeten über das Haus und die Kinder. Aber als sie zurück im Abteil waren, überfiel sie ein ähnliches Schweigen wie das im Restaurant am Jardin du Luxembourg. Wenn du dich von einer Trauer entfernen willst, dann scheint es unvermeidlich, dieselben Schritte zurückzugehen, die dich zu ihr hingeführt haben. Eine ungewöhnliche Ungeduld senkte sich auf Dick herab.
Plötzlich sagte Nicole: »Es war nicht schön, dass wir Rosemary so zurücklassen mussten – glaubst du, dass sie klarkommt?«
»Natürlich. Sie kommt überall zurecht –« Und damit es nicht so aussah, als ob er Nicole das nicht zutrauen würde, fügte er hinzu: »Sie ist schließlich Schauspielerin, und obwohl sie immer noch ihre Mutter im Hintergrund hat, muss sie sich letztlich allein durchschlagen.«
»Sie ist sehr attraktiv.«
|258| »Sie ist noch ein Baby.«
»Und trotzdem ist sie attraktiv.«
So redeten sie hin und her, wobei jeder die Position des anderen vertrat.
»Sie ist nicht so intelligent, wie ich dachte«, bot Dick an.
»Sie ist doch ganz gescheit.«
»Nicht allzu sehr – es riecht doch alles noch sehr nach Kinderzimmer.«
»Sie ist aber sehr, sehr hübsch«, sagte Nicole emphatisch und abgeklärt. »Und in diesem Film fand ich sie sehr gut.«
»Das lag an der Regie. Wenn man genau darüber nachdenkt, war es nicht sehr individuell.«
»Fand ich schon. Ich glaube, dass sie für Männer sehr attraktiv ist.«
Er spürte einen Stich ins Herz. Was für Männer? Wie viele?
– Haben Sie etwas dagegen, wenn ich den Vorhang zuziehe?
–
Nein gar nicht, es ist hier drin viel zu hell.
Wo war sie jetzt? Und bei wem?
»In ein paar Jahren wird sie zehn Jahre älter als du aussehen.«
»Im Gegenteil. Im Theater hab ich sie mal auf ein Programmheft skizziert. Ich bin überzeugt, dass sie sich halten wird.«
In der Nacht konnten sie beide nicht schlafen. In ein, zwei Tagen würde Dick versuchen, Rosemarys Geist zu vertreiben, ehe er sich bei ihnen festsetzte, aber im Augenblick fehlte ihm dazu die Kraft. Manchmal ist es schwerer, auf einen Schmerz zu verzichten als auf ein Vergnügen, und die Erinnerung beschäftigte ihn so, dass er gegenwärtig nichts anderes tun konnte, als so zu tun, als wäre nichts weiter. Das
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