Zaertlich ist die Nacht
folgten, wo der tunesische Barkeeper die Beleuchtung so steuerte, dass sie zum Kontrapunkt des Mondlichts wurde, das sich auf der Eisbahn spiegelte und durch die großen Fenster hereinschien. |275| In diesem Licht fand Dick das Mädchen leblos und uninteressant. Er wandte sich von ihr ab, um die Dunkelheit zu genießen, und studierte die Glutpünktchen der Zigaretten, die sich silbern und grün färbten, wenn das Licht rot wurde, und das weiße Lichtband, das auf die Tänzer fiel, wenn sich die Tür der Bar öffnete.
»Sag mal, Franz«, fragte er, »zweifeln deine Patienten eigentlich nicht an deinem Charakter, wenn du die ganze Nacht Bier säufst? Denkst du, sie merken nicht, dass du ein Gastropath bist?«
»Ich geh jetzt ins Bett«, erklärte Nicole. Dick begleitete sie bis zum Aufzug.
»Ich würde ja mitkommen, aber ich muss Franz noch davon überzeugen, dass ich nicht in eine Klinik gehöre.«
Nicole trat in die Aufzugkabine. »Baby hat eine Menge praktischen Verstand«, sagte sie nachdenklich.
»Baby ist eine –«
Die Tür schnappte zu, und weil er nur noch das Summen des Lifts hörte, beendete Dick den Satz in seinem Kopf: Baby ist eine banale, selbstsüchtige Frau.
Aber als er Franz zwei Tage später im Schlitten zum Bahnhof brachte, musste er zugeben, dass er die Angelegenheit jetzt doch sehr positiv sah. »Nicole und ich beginnen uns im Kreis zu drehen«, sagte er. »Bei unserem Lebensstil gibt es unvermeidlicherweise immer Belastungen, und die verträgt Nicole gar nicht gut. Mit dem idyllischen Leben an der Riviera ist sowieso bald Schluss – nächstes Jahr gibt es da bereits eine ›Sommersaison‹.«
Sie kamen an den blassgrünen Eislaufbahnen vorbei, wo Wiener Walzer plärrten und die bunten Fahnen der Ski-Schulen vor dem tiefblauen Himmel flatterten.
|276| »Ich hoffe, dass wir es machen können, Franz. Es gibt niemanden, mit dem ich es lieber versuchen würde –«
Leb wohl, Gstaad! Ade, ihr frischen Gesichter, ihr kalten, süßen Blumen, ihr Flocken im Dunkel. Leb wohl, Gstaad, good-bye!
14
Morgens um fünf wachte Dick auf, nach einem langen Kriegstraum. Er ging zum Fenster und starrte hinaus auf den Zuger See. Sein Traum hatte begonnen in düsterer Majestät: Marineblaue Uniformen überquerten einen dunklen Platz hinter einer Militärkapelle, die Prokofjews Marsch aus der ›Liebe zu den drei Orangen‹ spielte. Feuerwehrautos fuhren auf als Symbole der Katastrophe, und auf einem Verbandsplatz kam es zu einem geisterhaften Aufstand der Schwerverletzten. Er knipste seine Nachttischlampe an und schrieb den Traum sorgfältig auf, mit der abschließenden, halb ironischen Bemerkung: »Granatfieber eines Nicht-Kombattanten.«
Als er sich auf die Bettkante setzte, hatte er das Gefühl, dass nicht nur das Zimmer, sondern auch das Haus und die ganze Nacht leer waren. Im Nachbarzimmer murmelte Nicole etwas Verzweifeltes im Schlaf, und er bedauerte sie um ihrer Einsamkeit willen. Für ihn stand die Zeit still und beschleunigte sich nur alle paar Jahre in rasender Eile wie ein Film, der zurückgespult wurde, aber Nicole entglitten die Jahre im Takt der Uhr, des Kalenders und der Geburtstage, was sich noch durch die Vergänglichkeit ihrer Schönheit verschärfte.
Auch die letzten anderthalb Jahre hier am Zuger See |277| waren verschwendete Zeit für sie; der Wechsel der Jahreszeiten war nur daran zu erkennen, dass die Straßenarbeiter rosa im Mai, braun im Juli, fast schwarz im September und im Frühling dann wieder weiß waren. Nach ihrer Krankheit war sie so voller Hoffnung gewesen und hatte so viel erwartet, aber ihr einziger Halt im Leben war Dick. Die Kinder wuchsen als wohlerzogene Waisen heran, und ihre behutsame Liebe zu ihnen konnte sie immer nur vortäuschen. Die Menschen, die sie mochte, waren meistens rebellische Geister, die sie nur verwirrten und schädlich für sie waren. Sie suchte das Geheimnis der Lebenskraft bei ihnen, das sie schöpferisch, unabhängig und stark gemacht hatte, aber diese Suche blieb stets vergebens, denn dieses Geheimnis war tief in den Kämpfen der Kindheit verborgen, die sie längst vergessen hatten. Sie interessierten sich nur für Nicoles harmonisches und reizvolles Äußeres, das andere Gesicht ihrer Krankheit. Sie führte ein einsames Leben; denn sie besaß nur Dick, der nicht besessen werden wollte.
Schon oft hatte er vergeblich versucht, sie aus seinem Griff zu entlassen. Sie hatten viele gute Tage zusammen, führten gute Gespräche in den
Weitere Kostenlose Bücher