Zaertlich ist die Nacht
sich, als Doktor Diver hereinkam. Die meisten von ihnen mochten ihn lieber als Doktor Gregorovius. Vor allem diejenigen, die selbst einmal in der großen Welt gelebt hatten, wussten ihn sehr zu schätzen. Es gab allerdings auch ein paar, die fanden, dass er sie vernachlässigte oder nicht ehrlich war und ihnen bloß etwas vorspielte. Ihre Reaktionen waren so ähnlich wie die, denen Dick auch im nicht beruflichen Leben begegnete, hier allerdings waren sie schief und verzerrt.
Eine Engländerin sprach immer über ein Thema mit ihm, das sie für ihr eigenes hielt. »Haben wir heute Abend Musik?«
»Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich hab noch nicht mit Doktor Ladislau gesprochen. Wie hat Ihnen denn das Konzert von Mrs Sachs und Mr Longstreet gestern Abend gefallen?«
»Das war so lala.«
»Ich fand es sehr schön – vor allem den Chopin.«
»Ich fand’s so lala.«
»Wann werden Sie denn mal für uns spielen?«
Sie zuckte mit den Schultern und freute sich genauso über die Frage wie in den vergangenen Jahren. »Irgendwann. Aber ich spiele nur so lala.«
|281| Sie wussten, dass sie überhaupt nicht spielte – sie hatte zwei Schwestern gehabt, die brillante Musikerinnen gewesen waren, aber sie selbst hatte nicht einmal Noten lesen gelernt, als sie noch klein war.
Nach den Werkstätten besuchte Dick das Buchen- und das Rosenhaus. Äußerlich waren diese Häuser genauso hübsch wie die anderen; denn Nicole hatte die unvermeidlichen Gitterstäbe, Sperren und fest verankerten Möbel mit Schmuck überzogen, und was ihr an Erfinderkraft fehlte, hatte sich aus den Problemen selbst ergeben. Sie hatte so viel Fantasie investiert, dass kein uneingeweihter Besucher geahnt hätte, dass zum Beispiel das leichte, filigrane Rankenwerk vor dem Fenster ein starkes, unnachgiebiges Netz war oder die modernen Stahlrohrmöbel solider als die schweren Eichenschränke der Jahrhundertwende. Sogar die Blumen wurden von eisernen Fingern gehalten, und jede scheinbar noch so zufällige Vorrichtung oder Verzierung war so notwendig wie die Stahlträger in einem Wolkenkratzer. Ihre unermüdlichen Augen hatten jedem Raum den größtmöglichen Nutzen entlockt. Komplimente beantwortete sie mit dem schroffen Hinweis, sie sei eben ein guter Klempner.
Für diejenigen, deren Kompass nicht gestört war, gab es viel Kurioses in diesen Häusern. Im »Rosenhaus«, dem Haus für die Männer, gab es zum Beispiel einen merkwürdigen kleinen Exhibitionisten, der dachte, wenn er unbekleidet und unbehelligt vom Étoile bis zur Place de la Concorde gehen könnte, wäre er in der Lage, viele Probleme zu lösen – ›und vielleicht hat er ja vollkommen recht‹, dachte Dick.
Sein interessantester Fall war im Hauptgebäude. Die Patientin war eine Frau von dreißig Jahren, eine amerikanische Malerin, die lange in Paris gelebt hatte und jetzt seit |282| sechs Monaten in der Klinik war. Sie besaßen keine brauchbare Krankengeschichte von ihr. Einer ihrer Cousins war zufällig auf sie gestoßen, als sie schon verrückt und völlig hinüber war; nach einem unbefriedigenden Zwischenspiel in einer Klinik am Rande der Stadt, die sich auf Alkohol- und Drogenopfer unter den Touristen spezialisiert hatte, war es ihm gelungen, sie in die Schweiz zu bringen. Bei ihrer Einweisung war sie außergewöhnlich schön gewesen – jetzt war sie nur noch eine einzige, schmerzende Wunde. Die Blutuntersuchungen hatten keinerlei positive Reaktion ergeben, und daher wurden die qualvollen Hautreizungen als »nervöses Ekzem« katalogisiert, was allerdings niemanden befriedigte. Seit zwei Monaten lag sie jetzt darin eingeschlossen wie in einer Eisernen Jungfrau. Sie war – innerhalb der Grenzen ihrer Halluzinationen – durchaus bei Verstand, ja sogar fast brillant.
Sie war vor allem seine Patientin. In den Phasen der Übererregtheit war er der einzige Arzt, der »etwas mit ihr anfangen konnte«. Vor ein paar Wochen, in einer der vielen Nächte, die sie in schlafloser Folter verbrachte, hatte Franz es geschafft, sie zu hypnotisieren und ihr damit ein paar Stunden dringend benötigter Ruhe zu schenken, aber das war ihm später nie wieder gelungen. Hypnose war eine Methode, der Dick misstraute und die er selten benutzte, denn er wusste, dass er die entsprechende seelische Kraft oft selbst nicht in sich erzeugen konnte – er hatte es einmal bei Nicole versucht, und sie hatte ihn bloß ausgelacht.
Die Frau in Zimmer zwanzig konnte ihn nicht sehen, als er eintrat;
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