Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman
waren über die Jahrhunderte mit dem Talent gesegnet worden, über diese kleinen Koboldgeister zu gebieten, und diejenigen, die dazu in der Lage waren, mussten normalerweise einige Mühe aufwenden, um einen zu rufen. Kiyoko konnte ohne jede Anstrengung mehrere
shikigami
herbeizitieren, und wenn sie zum Leben erwachten, purzelten sie übereinander in ihrem Übereifer, ihr zu Diensten zu sein. Wie jetzt auch. Ein Dutzend unsichtbarer Geister umschwärmte plötzlich Kiyokos Kopf, tätschelte sie sanft, strich ihr über die Haut, sauste wieder davon und benahm sich im Übrigen ganz so wie ihre kätzischen Vertrauten, mit denen man sie oft verglich.
Kiyoko erteilte ihnen einen Befehl, und fort waren sie.
»Eine kleine Gruppe entschlossener Geister, die angefeuert wird durch einen unauslöschlichen Glauben an ihre Mission, kann den Lauf der Geschichte verändern«, murmelte Sora, während er die Holzdielen anhob, unter denen sich die metallene Luke zum Felsengang verbarg.
Kiyoko warf ihm einen Blick zu. »Konfuzius?«
»Nein, Gandhi.«
Sie lächelte. »Ein kluger Mann.«
»In der Tat.«
Das Haus wurde heftig in seinen Grundfesten erschüttert, und Keramikschüsseln und -töpfe zerschellten auf dem Boden ringsum. Kiyoko schob hastig die Luke beiseite und legte die Tunnelöffnung im Fels frei.
»Kiyoko-san, du gehst als Erste«, ordnete Sora an.
Sie nickte und glitt in den kühlen, feuchten Tunnel hinab. Gerade als sie den Kopf einziehen und in dem dunklen Gang verschwinden wollte, drang ein wildes, kehliges Brüllen durch die Luft an ihr Ohr. Ihm folgten die anschwellenden Beifallsrufe der Onmyōji-Krieger.
Sie blickte hinauf zu Sora, der nur mit den Schultern zuckte.
»Sieht so aus, als wäre Mr Murdoch früher als erwartet zurück. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es sein Berserker mit zwanzig Dämonen aufnehmen kann, aber ich würde sagen, dass sich unsere Überlebenschancen soeben dramatisch verbessert haben. Weiter, Kiyoko-san!«
»Aber …«
»Deine Pflicht ist es, den Schleier zu beschützen.«
»Aber …«
»Und
unsere
Pflicht ist es, dich zu beschützen. Vorwärts, Kiyoko-san!« Die Freundlichkeit war aus seiner Stimme verschwunden und von einem festen Befehlston abgelöst worden. »Sofort!«
Kiyoko betrat den Tunnel.
Ryuji folgte ihr, dann Sora und am Schluss Yoshio. Als alle vier unten waren, zog Yoshio die Holzdielen wieder über die Öffnung und schob die Metallluke zu. Undurchdringliche Finsternis hüllte sie ein.
Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen daran gewöhnt hatten. Dann glühten leuchtende Markierungen an den Tunnelwänden auf und erhellten den gewundenen Gang vor ihnen. Erstaunlich, wie beruhigend eine Reihe von kleinen grünen Punkten wirken konnte. Vor allem, wenn die rauhen Wände auf der einen Seite gegen ihre Hände drückten und ihre Köpfe fast die Tunneldecke streiften.
Sie bewegten sich eilig durch den Tunnel.
Murdoch war stark, klug und im Kampf gegen Dämonen erfahren. Er würde es überleben. Über eine andere Möglichkeit wollte Kiyoko gar nicht erst nachdenken. Wenn das Gefecht vorüber war, würde er sie mit seinem typisch arroganten, schiefen Grinsen begrüßen und sie dafür loben, dass sie den Schleier in Sicherheit gebracht hatte. Ganz bestimmt.
»Der Tunnel endet auf einem schmalen Felsvorsprung in den Klippen«, sagte Sora bei der dritten Biegung des Tunnels. »Von dort aus müssen wir klettern.«
»Ich erinnere mich.«
Als sie klein war, hatte ihr Vater darauf bestanden, hin und wieder die Flucht zu proben. Am schlimmsten war eine Übung mitten in der stockfinstersten Nacht gewesen. Noch Wochen später hatte sie Alpträume davon gehabt, wie sie die Klippen im Dunkeln hochgeklettert war, ohne die kleinen, in den Fels gemeißelten Tritte sehen zu können, und immer wieder den Halt verloren hatte. Zum Glück würden sie heute bei Tageslicht klettern.
Als sie die letzte Biegung des Tunnels erreichten, stieß Kiyokos große Zehe an etwas Dünnes, Hartes. Das Ding flitzte über den Boden, prallte gegen die Tunnelwand und zerbrach.
»Was war das?«, fragte Ryuji.
»Ich weiß es nicht genau«, erwiderte Kiyoko, während sie vorsichtig den Fuß auf die Scherben zuschob.
Sora schaute ihr über die Schulter. »Du wirst dir nur weh tun. Wir müssen weiter.«
»Es könnte aber etwas Wichtiges sein.«
»Nichts ist so wichtig, wie dich und den Schleier in Sicherheit zu bringen«, sagte er entschlossen. Seine Hände tasteten auf der Suche nach dem
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