Zaertliche Brandung - Roman
sie deutete immer wieder hektisch auf die Schreibtische.
»Bram hat dieses Büro eingerichtet, als wir zu ihm gezogen sind«, erklärte Jesse und zog für sich einen Stuhl heran, ebenfalls ihr gegenüber.
»Er hat darauf bestanden, dass wir an den Abenden hier sitzen und die Hausaufgaben machen sollten. Jeder von uns bekam einen Schreibtisch, einen Computer und ein Telefon«, setzte er hinzu und zog seinen Schlips vom Hals.
»Hier sieht es aus wie in einer öffentlichen Bibliothek. «
»Es ist praktisch eine«, pflichtete Sam ihr bei und reichte ihr einen sehr verdünnten Drink.
Für den nächsten Morgen drohte ihr ein schwerer Kopf. Er konnte nur hoffen, dass sie sich bis zur Testamentseröffnung
wieder erholen würde. Eine Frau sollte … alle Sinne beisammen haben, wenn sie erfuhr, welches Schicksal ihr blühte.
»War dieser Bursche ein echter Herzog? Der, den Sie mir vorgestellt haben?«, fragte sie, das Thema willkürlich wechselnd.
»Ja. Seine Gnaden Peter of Kent«, sage Jesse.
»Etwa ein Verwandter, Willa?«
»Nein.« Sie schnaubte, während sie gleichzeitig einen Schluck von ihrem Scotch nehmen wollte, und bescherte dadurch ihrem Kleid noch einen Fleck. Ihre Augen weiteten sich ungläubig.
Im Schwips wurden Willas Augen kristallblau und vermittelten Sam das Gefühl, tief in die Seele des Ozeans zu blicken.
»Wie viel haben Sie heute getrunken?«, fragte Jesse und studierte sie aus zusammengekniffenen Augen.
»Nicht viel.«
»Sam, wenn du ihr das Glas nicht abnimmst, wirst du sie die Treppe hinauftragen müssen«, äußerte Ben warnend.
Wieder schnaubte Willa.
»Wenn seine Beine auf halbem Weg nachgeben, finden wir beide den Tod. Wie geht es Ihrem Knie?«, fragte sie Sam, auf den heftigen Tritt anspielend, den ihm Richard Bates versetzt hatte.
Dann riss sie die Augen auf und setzte sich aufrecht hin.
»O Gott, da fällt, mir ein, dass Shelby angerufen hat. Was ist mit Richard passiert?«, fragte sie Ben.
»Wie meinen Sie das?« Er studierte die im Glas kreisenden Eiswürfel.
»Er ist noch nicht zu Hause angekommen. Was haben Sie mit ihm gemacht?«
»Sie haben gesagt, sie wollten Ihre Schwester zur Scheidung überreden, deshalb haben Jesse und ich Ihnen ein wenig Zeit allein mit ihr verschafft.«
Willa erbleichte.
»Wie?«, quiekte sie.
»Richard Bates befindet sich auf einem langsamen Schiff mit Kurs auf Italien«, sagte Jesse.
»Sie haben jetzt zwei Wochen Zeit, Ihre Schwester zur Vernunft zu bringen. Es kostet viel Zeit und Bürokratie, wenn man ohne Pass reist.«
»Sie haben ihn entführt?«
»Heute ist ein Tidewater-Frachter ausgelaufen.«
»Das können Sie nicht machen!«
»Willa, wir haben es gemacht«, sagte Ben seufzend und stand auf.
»Also, schaffen Sie es ohne Hilfe auf Ihr Zimmer? Ich bin total groggy.«
»Aber was soll ich Shelby sagen?«
»Sagen Sie ihr, dass sie sich aus dieser Ehehölle befreien soll. Sie hat zwei Wochen Zeit, um in aller Ruhe die Scheidung einzureichen.«
»Aber sie hat zwei Kinder!«
»Ist Richard Bates nun ein Ekel oder nicht?«, brummte Sam und nahm ihr das Glas ab, das sie krampfhaft umklammert hielt.
»Er ist sogar ein Ekel der Sonderklasse.«
»Liebt sie ihn?«
»Sie … sie könnte ihn lieben«, musste Willa mit schmerzlichem Blick zugeben.
»Dann ist Ihre Einmischung nicht willkommen.«
»Aber er ist so gemein zu Shelby – und sie lässt es sich gefallen.«
»Dann muss sie sich mit ihm auseinandersetzen. Sie können nicht an ihrer Stelle die Scheidung durchsetzen, Willa. Das muss Shelby schon allein durchstehen.«
»Und was ist mit den Kindern?«
»Sind sie mit oder ohne Richard besser dran?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie, den Blick in ihren Schoß gesenkt.
»Ich weiß es einfach nicht.« Sie blickte wieder zu Sam auf.
»Shelby ist bildhübsch und war immer voller Lebenslust. Sie ist sechs Jahre älter als ich, und ich habe immer zu ihr aufgeschaut. Umso bitterer ist es für mich, wenn ich sie jetzt so sehen muss.«
»Wie denn?«, fragte Ben, »misshandelt er sie?«
»Seelisch, denke ich. Shelby wurde so in sich gekehrt. Zumal seit … seit dem Unfall.«
»Seit welchem Unfall?«
»Seit dem Unfall, bei dem ich meinen Wagen zu
Schrott gefahren habe und meine Nichte lebenslang zum Krüppel wurde.«
Nur das Ticken der Kaminuhr unterbrach die Stille.
Kleine Stückchen dessen, was Sam als äußerst kompliziertes Puzzle ansah, fanden nun ihren Platz. Willa litt unter Schuldgefühlen, weil sie das Unfallauto
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