Zärtlicher Hinterhalt
London. London, wo man verschwinden konnte, ohne je wieder gefunden zu werden. London, die Stadt ihres Exils.
Als die Stalljungen fertig waren, ging Hannah sofort auf den Kutscher zu. »Hier sind mein Fahrschein und meine Tasche. Bitte laden Sie mein Gepäck auf Wie lange dauert es noch, bis wir abfahren?
«
Der Kutscher betrachtete sie von oben nach unten. Hannah wusste, wen er vor Augen hatte. Eine junge Lady in allerfeinster Trauerkleidung, unter der Hutkrempe einen Schleier festgesteckt, durch den das goldene Haar blitzte. Sie hatte keine Zofe dabei, was gegen sie sprach. Aber ihre Erscheinung zeugte von Rang, was
den Kutscher veranlasste, sich an den Hut zu tippen und respektvoll Antwort zu geben.
»Wir sind fahrbereit, Miss.«
»Dem Himmel sei Dank
«,
flüsterte Hannah. Sie wollte nicht entdeckt werden. Was vermutlich auch nicht geschehen würde, denn Dougald war nach Manchester gefahren. Charles begleitete ihn, aber was Charles anging, konnte man nie sicher sein. Der verschlagene Franzose schien alles zu wissen, was im Hause vor sich ging, und Hannah hatte all ihrer List bedurft, unentdeckt zu entkommen.
»Aye, Miss. Wir kriegen Sie schon pünktlich zur Beerdigung nach London«, versicherte ihr der Kutscher.
»Danke.« Sie drückte ihm eine Münze in die Hand. »Sehr freundlich von Ihnen!«
Der Kutscher öffnete ihr den Wagenschlag und blaffte die anderen Reisenden an: »Die Herrn fahren rückwärts, heute haben wir eine Lady dabei!«
Ein geckenhafter Gentleman streckte den Kopf zur Tür heraus. »Eine Lady? Was kümmert mich eine Lady. Ich war zuerst da.«
Mit lässigem Griff zerrte der Kutscher ihn aus dem Wagen. »Sie machen, was ich sag, oder Sie sitzen oben auf dem Dach!«
Der Gentleman formulierte gerade eine Beleidigung, da entdeckte er Hannah.
Sie starrte ihn ausdruckslos durch den Schleier an.
Der Herr trat vor und bot ihr seinen Arm. »Wenn ich beim Einsteigen behilflich sein dürfte, Miss …«
Mrs. hätte sie ihn fast korrigiert. Mrs. Pippard. Aber sie fing sich im letzten Moment, überlegte schnell und sagte: »Miss Setterington. Herzlichen Dank, Sir!« Und stieg ein.
Auf der Kutschbank in Fahrtrichtung saßen eine plumpe, ältere Frau und ein elend aussehendes Mädchen, das fest eine Reisetasche umklammerte. Hannah wusste mit einem Blick Bescheid – die Frau war vertrauenswürdig, das Mädchen vom Lande und unterwegs, um in der großen Stadt ihr Glück zu machen. »Darf ich?«, fragte sie. Die beiden machten Platz, und Hannah quetschte sich dazwischen.
Der Geck nahm ihr gegenüber Platz, bereit, ein Gespräch anzuknüpfen: »Sie sind also nach London unterwegs. Welch ein Zufall! Das bin ich auch.«
Hannah wusste, dass sie ihn abschrecken musste. Wozu sie auch in der Lage war – keineswegs die reiche, unbedarfte Lady, für die er sie hielt. Sie war ein illegitimer Bastard auf Arbeitssuche, gewöhnt ans Herumreisen und daran, Menschen schnellstmöglich einzuschätzen und sich irgendwie durchs Leben zu schlagen.
All das würde sie auch brauchen, wenn sie sich vor Dougald verstecken wollte, und zwar so, dass er sie niemals fand. Aber sie würde es schaffen, als Miss Hannah Setterington, eine unabhängige, ledige Lady.
Die Tür flog zu, die Peitsche knallte, und mit einem Ruck setzte sich die Kutsche in Bewegung. Hannah beugte sich vor, um einen letzten Blick auf Liverpool zu werfen. Dann lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Nach nur sechs Monaten Ehe war alles, wonach sie sich gesehnt hatte, verloren. Sie ließ ihre Träume von Ehe, Liebe und Familie zurück und würde nie wieder an diese Träume
– an ihn
– denken.
Ein Geräusch holte sie aus düsterer Erinnerung in die schmerzliche Gegenwart zurück.
Mit einem Gehstock in der Hand stand Mrs. Trenchard unter der Tür. »Lord Raeburn schickt mich, um beim Packen zu helfen.«
»Packen?« Hannah konnte immer noch nicht glauben, dass Dougald so grausam war.
»Weil Sie nach London zurückkehren.«
Es hatte wehgetan, ja, als Hannah Dougald das letzte Mal verlassen hatte; aber sie hatte gehen wollen, ihrer Selbstachtung, ihrer Unabhängigkeit, ihres eigenen Willens wegen. Doch was würde ihr diesmal bleiben: verletzter Stolz, zerschmetterter Elan und das Wissen, dass sich ihr Traum von einer Familie niemals bewahrheitete?
Der Traum, mit Dougald eine Familie zu haben! Dougald, der ihr mit jedem Wort bewiesen hatte, wie niederträchtig er war. Dougald, der ihre Gedanken lesen konnte, ihre Ängste kannte und alles gegen
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