Zärtlicher Hinterhalt
Dougald gehört, wie sehr Victoria die Legenden der verschiedenen Grafschaften liebte. Vielleicht malte er sich aus, der Königin die Geschichte von Lord Raeburns Gemahlin zu erzählen, wie sie sich unglücklich verliebt hatte, vom Gatten gefangen gesetzt worden und am Ende in den Tod gesprungen war. Keine schlechte Idee. Die pittoreske Schauergeschichte würde Ihre Majestät bestimmt in ihren Bann schlagen.
Hannah war nie im Ostturm gewesen. Das Schicksal vom zornigen Lord Raeburn und seiner jungen Frau erinnerte sie zu sehr an ihr eigenes; also hatte sie stets einen Bogen um diese Örtlichkeit gemacht. Aber jetzt stand die Tür zum Treppenhaus offen. Sie trat ein und fühlte sich ins Mittelalter zurückversetzt.
Romantischer Unsinn, gewiss, aber der Westturm wurde seit vielen Jahren von den Tanten genutzt und war, verglichen mit dem Ostturm, in gutem Zustand. Der Westturm hatte verputzte Wände und eine Treppe, die nicht älter war als Tante Spring selbst. Hier im Ostturm drang das einzige Licht durch schmale Spalten im Gemäuer – einem Überbleibsel aus der Zeit, als Raeburn Castle noch von Bogenschützen verteidigt wurde. Im trüben Halbdunkel wanden sich die rauen Steinwände Stufen hinauf, die wahrscheinlich schon lange vor der Zeit existierten, als Lord Raeburn seine französische Braut in ihr Gefängnis hinaufgezerrt hatte. Und dieses Gefängnis war auch nicht über neue, ordentliche Stufen mit einem Treppenabsatz zu erreichen, sondern durch eine offene Bodenklappe, zu der eine hölzerne Leiter hinaufführte. Die ganze Szenerie war kalt und grau. Aus der Kammer oben im Turm fiel nur schwaches Licht, und drinnen weinte Lady Raeburns Geist vermutlich immer noch um den verlorenen Geliebten.
Hannah schauderte es. Romantischer Unsinn, gewiss, aber sie mochte diesen Trakt nicht.
Was immer Dougald mit ihr besprechen wollte, die Antwort lautete
nein.
Queen Victoria würde die Aussicht nicht sehen wollen, sie würde die Geschichte der Lady Raeburn nicht hören wollen und – was am schwerwiegendsten war sie würde die Leiter nicht hinaufsteigen wollen.
Hannah
wollte die Leiter auch nicht hinaufsteigen, aber die Neugier siegte.
Ob Dougald schon oben war?
Die Erinnerung an ihren Unfall begleitete sie, während sie Stufe für Stufe prüfte. Ihr Knöchel tat immer noch ein bisschen weh; je höher sie kam, desto vorsichtiger kletterte sie.
Falls Dougald im Turm war, hatte er dann ihre Anwesenheit schon bemerkt? Sie war nicht gerade leise gewesen. Weiter oben angelangt, rief sie nach ihm: »Dougald?«
Keine Antwort; aber in seiner Nachricht hatte auch nichts davon gestanden, dass er schon da sein würde. Hätte sie unten warten sollen, bis er käme? Sie steckte den Kopf ins Turmzimmer und stellte fest, dass der Raum der Größe nach dem Handarbeitszimmer der Tanten entsprach, ansonsten aber in jeder Hinsicht verwahrlost war, unbenutzt, traurig und ohne jede Spur von Dougald.
Hannah erklomm die letzten Stufen. Ein paar alte, kaputte Möbelstücke hatten den Weg hinaufgefunden. Der Dielenboden war kahl und nicht einmal staubbedeckt. Die Fenster besaßen weder Scheiben noch Vorhänge, sondern lediglich Läden als Wetterschutz. Das Schindeldach war an manchen Stellen schon dünn. Sonnenstäubchen tanzten ziellos umher. Normalerweise hielt sie sich für eine tüchtige, sachliche Frau; aber die Altertümlichkeit und die Verlassenheit hier oben versetzten sie in helle Angst.
Allein der Anblick der offenen Bodenklappe ließ ihren Knöchel schmerzen, also machte sie sie vorsichtig zu. Sie bewegte sich lautlos wie der Trauergast auf einer Beerdigung, ging zum Südfenster und öffnete den Laden. Er schwang weit auf und ließ den Sonnenschein herein. Doch das Gefühl der Verlorenheit wurde immer stärker. Der Blick ging auf die verlassene Rückseite des Schlosses hinaus, wo keine Gärten blühten und kein Mensch zu sehen war. Das hatte sicher die traurige Vergangenheit des Turms bewirkt.
Sie hätte gerne gesehen, was sich unten am Fuß des Turms befand; aber sie wusste nur zu gut, wie steil es von ihrer Schlafkammer nach unten ging, und das hier würde schlimmer sein, viel schlimmer. Also hob sie den Blick zum Horizont, wo der bläuliche Dunst des Himmels sich über den Ozean legte, über die Wellen, die an den Strand schlugen, über die wogenden Hügel und Täler, wo auf den Feldern nun das Korn aufging. Lancashire hätte sie sich zur Heimat erwählen, hätte diese Nähe von Meer und Land lieben können. … und tat es
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