Zärtlicher Hinterhalt
einmal den Mut gehabt, sich zu zeigen.
Als sie an diesem Abend in ihre Schlafkammer zurückkehrte, knarrten die Bodendielen altersschwach unter ihren Füßen, und der Gang schien förmlich nach vergangenem Leid zu riechen. Die Kerze in ihrer Hand flackerte ängstlich und weigerte sich, die Ecken oder die hohe Decke zu erhellen; auf Hannah lastete, schwer wie nie zuvor, die Einsamkeit.
»Weil sich zur Einsamkeit die Feigheit gesellt«, sagte sie laut vor sich hin. Zwar konnte sie Dougald vorwerfen, sie zu sehr geängstigt zu haben, aber die ganze Wahrheit war das nicht. All die Jahre lang hatte sich Schrecken in die Vorfreude gemischt, wann immer sie sich ausgemalt hatte, ihre Famille zu treffen. Dougald hatte die Angst mit seinen gezielten Unkenrufen vielleicht noch größer werden lassen, doch wenn sie tapferer gewesen wäre, hätte sie es gewagt. Sie öffnete ihre Zimmertür. »Ich will nichts mehr hören von diesem Gejammer über deine Einsamkeit, Hannah Alice.« Vor ihrem inneren Auge erstand wieder das Bild der Großeltern, wie sie in die Kutsche stiegen. »Nicht nachdem du dir solch eine Gelegenheit hast entgehen lassen!«
Das Bild verschwand, als drinnen der einzige, wackelige Stuhl knarrte und eine dunkle Gestalt sich erhob.
Hannah gab einen erschrockenen Quietscher von sich.
»Was, zur Hölle, hast du dir dabei gedacht, Ihre Majestät nach Raeburn Castle einzuladen?«, empfing Dougald sie zornig.
»Musst du mir unbedingt so auflauern?« Sie legte die Hand aufs Herz. Dann hob sie die Kerze und leuchtete ihn an, die immerwährend grimmige Miene und den schwarzen, gut sitzenden Anzug in all seiner Formalität. Er war ein fabelhaft aussehender Mann; aber dieser endlose Trübsinn und dieses Herumgeschleiche hatten ihre Geduld erschöpft sein Aussehen gereichte ihr längst nicht mehr zur Freude.
»Antworte! Warum hast du mir nicht gesagt, dass du die Königin eingeladen hast?«
»Du hättest mich auch nach unten bitten können … abgesehen davon … habe ich keine Lust, mir dein Genörgel anzuhören«, äffte sie ihn nach.
»Beantworte einfach die Frage. Was, zur Hölle, hast du dir dabei gedacht, Ihre Majestät nach Raeburn Castle einzuladen?«
Er stieß die Frage zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor – ein interessantes Phänomen, das sie gerne öfter zu Gesicht bekäme. Zum ersten Mal seit sie hier war, stand sie dem alten Dougald gegenüber, dem, der so etwas wie Temperament an den Tag legte. Der alte Dougald hatte sie immer nur angeschrien, aber damals hatte man ihm wenigstens noch keinen Mord nachgesagt. Hannah antwortete also kühl und höflich: »Du hast den Tanten mitgeteilt, dass ich mit Ihrer Majestät bekannt bin, aber mit mir hast du nicht besprochen, was ich ihres Wunsches wegen, die Königin herzubitten, unternehmen sollte.«
»Ich hatte nicht erwartet, dass du,
mein
Haus betreffend, eine Einladung aussprichst.« Er betonte jede Silbe.
»Nun, woher hätte ich das wissen sollen?« Sie zündete ein paar Kerzen an, und ein schwacher Lichtschein erhellte das ordentliche, schmale Bett, das angeschlagene Waschgeschirr und die fleckigen Vorhänge. »Also habe ich, anstatt deinen Wünschen zu entsprechen, was ich natürlich getan hätte, wenn du sie mit mir besprochen hättest, eben die Tanten glücklich gemacht und an Ihre Majestät geschrieben. Und die handschriftliche Einladung beigelegt, in der die Damen persönlich Ihre Majestät ersuchen, doch den bescheidenen Tribut an Ihre Majestät und Ihrer Majestät Regentschaft in Augenschein zu nehmen.«
Dougald zog einen schweren, elfenbeinfarbenen Briefbogen aus der Weste und starrte ihn an, als drohe er jeden Moment zu explodieren.
Hannah erkannte das königliche Siegel. Ihrer Majestät höflichste Absage.
Wie Dougald darauf reagierte, Adressat eines königlichen Schreibens zu sein, erstaunte Hannah. Manche Menschen empfanden der Königin gegenüber eine derartige Ehrfurcht, dass sie sich einen Briefwechsel mit ihr schlicht nicht vorstellen konnten, aber von Dougald hätte Hannah das nicht erwartet. Und Dougalds Fassungslosigkeit war fast schon charmant, daher sagte sie sacht: »Ja, Dougald, ich gebe es zu. Es war unverfroren, aber es hat Ihre Majestät keinesfalls beleidigt, falls es das ist, worum du dir Sorgen machst. Das Schreiben der Tanten war wirklich bezaubernd, mit genau der richtigen Mischung aus Eifer, Aufgeregtheit und ergebener Bitte.«
Der Briefbogen raschelte in seinen zitternden Fingern. »Das war deine Rache dafür,
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