Zärtlicher Nachtwind - Kleypas, L: Zärtlicher Nachtwind - Tempt me at Twilight

und Southampton. Die florierende Marktstadt Stony Cross befand sich in einer der malerischsten Gegenden Englands. Doch die Stadt und ihre Umgebung bargen mehr als nur einen landschaftlichen Reiz. Sie besaß eine geheimnisvolle Qualität, etwas, was schwer auszumachen war. Ihm war, als reisten sie an einen Ort außerhalb der Zeit, als wären die alten Wälder von Wesen bewohnt, die es nur in Märchen gab. Als der Abend hereinbrach, versammelte sich der Nebel im Tal, und gespenstische Dunstschleier krochen durch die Straßen, als kämen sie aus einer anderen Welt.
    Die Kutsche bog in die private Zufahrtstraße ein, die zum Gut Ramsay führte, vorbei an zwei offen stehenden Toren und einem Hausmeisterhäuschen aus blaugrauem Stein. Das Haupthaus war eine Komposition architektonischer Stile, die eigentlich nicht recht zusammenpassten, aber irgendwie passte es doch.
    In diesem Haus war Poppy. Die Erkenntnis spornte ihn an, er konnte es kaum erwarten, bei ihr zu sein. Er war mehr als verzweifelt. Poppy zu verlieren war das Einzige, worüber er nicht würde hinwegkommen können, und das gab ihm das Gefühl, eingesperrt zu sein. Es machte ihm Angst, und es machte ihn wütend. Die Empfindungen gipfelten in einem einzigen treibenden Gedanken: Man würde ihn nicht von ihr trennen.
    Mit der Geduld eines angelockten Dachses schritt Harry auf die Haustür zu, ohne auf einen Diener zu warten. Er verschaffte sich Zutritt zum Haus und betrat die zwei Stockwerke umfassende Eingangshalle, die mit einer makellosen hellen Holzverkleidung versehen war. Im hinteren Teil befand sich eine steinerne Wendeltreppe.
    Cam Rohan empfing ihn. Poppys Schwager war leger gekleidet, er trug ein kragenloses Hemd, eine Hose und ein offenes Lederwams. »Rutledge«, sagte er freundlich, »wir sind gerade mit dem Abendessen fertig. Möchtest du auch etwas?«
    Harry schüttelte ungeduldig den Kopf. «Wie geht es Poppy?«
    »Komm, wir trinken ein Glas Wein zusammen und besprechen ein paar Dinge …«
    »Hat sie auch zu Abend gegessen?«
    »Nein.«
    »Ich will sie sehen. Jetzt.«
    Cams Gesicht blieb freundlich. »Ich fürchte, du wirst dich gedulden müssen.«
    »Lass es mich anders ausdrücken: Ich werde sie jetzt sehen, und wenn ich dieses Haus in Kleinholz verwandeln muss …«
    Cam nahm die Herausforderung gelassen auf. Mit einem Schulterzucken meinte er: »Draußen, also.«
    Diese sofortige Bereitschaft zu einer Prügelei überraschte und erfreute Harry. Sein Blut kochte, es juckte ihm in den Fingern, er war kurz vorm Überschnappen.
    Ein Teil seines Verstands erkannte, dass er nicht ganz er selbst war, dass sein Verstand nicht mehr ganz richtig arbeitete und seine Selbstbeherrschung außer Betrieb war. Sein sonst so kühles logisches Denkvermögen hatte ihn verlassen. Er wusste nur noch eins: Er wollte Poppy, und wenn er um sie kämpfen musste, dann würde er kämpfen. Und er würde so lange kämpfen, bis er verdammt nochmal tot umfiel.
    Er folgte Cam durch die Tür in einen Seitengang und hinaus in einen kleinen offenen Wintergarten, wo ein paar Fackeln brannten.
    »Ich sag dir was«, bemerkte Cam im Plauderton. »Es spricht für dich, dass deine erste Frage nicht lautete: ›Wo ist Poppy?‹, sondern ›Wie geht es Poppy?‹.«
    »Zum Teufel mit dir und deinen Ansichten«, knurrte Harry, zog seinen Mantel aus und warf ihn beiseite.
    »Ich werde nicht um Erlaubnis bitten, meine Frau zurückholen zu dürfen. Sie gehört mir, und ich werde sie mir nehmen, und zur Hölle mit eurer ganzen Sippe.«
    Cam wandte sich zu ihm um, das Fackellicht leuchtete in seinen Augen und in seinem schwarzen Haar. »Sie gehört zu meinem Stamm«, erwiderte er und begann Harry zu umkreisen. »Du wirst ohne sie zurückkehren, wenn du nicht einen Weg findest, sie dazu zu bringen, dich zu wollen.«
    Harry begann ebenfalls zu kreisen, und das Chaos in seinem Kopf legte sich wieder, als er sich auf seinen Gegner konzentrierte. »Keine Regeln?«
    »Keine Regeln.«
    Harry setzte zum ersten Schlag an, und Cam wich mühelos aus. Ausgleichend, berechnend, pendelte Harry nach hinten aus, als Cam einen rechten Haken schlug. Ein Pivot, und Harry schloss mit einer linken Geraden an. Cam reagierte eine Spur zu langsam, er wehrte einen Teil der Schlagkraft ab, aber nicht alles.
    Ein leiser Fluch, ein betrübtes Grinsen, und Cam stellte die Deckung wieder her. »Hart und schnell«, meinte er anerkennend. »Wo hast du gelernt zu kämpfen?«
    »New York.«
    Cam machte einen Satz nach vorn und