Zärtlicher Nachtwind - Kleypas, L: Zärtlicher Nachtwind - Tempt me at Twilight
einmal aufnehmen, oder sollen wir lieber auf den Rest verzichten und mit Ramsay einen Brandy trinken?«
Eins war Harry klar: Seine angeheirateten Verwandten waren keine normalen Leute.
Besonders schön an den Sommertagen in Hampshire war, dass es trotz der sonnigen, warmen Tage abends kühl genug für ein Feuer war. Poppy war allein im Hausmeisterhäuschen und machte es sich vor dem kleinen, knisternden Ofen gemütlich, um im schwachen Licht der Lampe ein Buch zu lesen. Sie las immer wieder dieselbe Seite, unfähig sich zu konzentrieren, während sie auf Harry wartete. Sie hatte seine Kutsche vorbeifahren sehen, und sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie ihn zu ihr schickten. »Du wirst ihn nicht zu Gesicht bekommen«, hatte Cam ihr erklärt, »bis ich der Meinung bin, dass seine Stimmung ausreichend abgekühlt ist.«
»Er würde mir nie wehtun, Cam.«
»Trotzdem, Schwesterlein, habe ich vor, erst ein paar Worte mit ihm zu wechseln.«
Sie trug ein Nachthemd, das sie sich von Win geborgt hatte, ein gerüschtes hellrosa Kleidungsstück mit einem weißen Spitzeneinsatz am Ausschnitt. Das Oberteil war recht tief geschnitten und entblößte ihr Dekolleté, und da Win schmaler war als sie, war das Nachthemd eine Spur zu eng, so dass ihre Brüste beinahe über die Spitze quollen. Weil sie wusste, dass Harry es mochte, wenn sie ihr Haar offen trug, hatte sie es gekämmt und nicht wieder hochgesteckt. Die feurige Mähne umgab sie wie ein Vorhang.
Ein Geräusch drang von draußen herein, ein heftiges Wummern gegen die Tür. Poppy blickte jäh auf, ihr Puls beschleunigte sich, ein flaues Gefühl breitete sich in der Magengegend aus. Sie legte das Buch beiseite und ging zur Tür, drehte den Schlüssel im Schloss, zog am Türknauf.
Und sie fand sich auf Augenhöhe mit ihrem Ehemann wieder, der eine Stufe weiter unten auf der Veranda stand.
Das war eine neue Version von Harry. Er sah erschöpft und zerzaust und brutal aus, seit der letzten Rasur war ein ganzer Tag vergangen. Die maskuline Ungepflegtheit stand ihm gut zu Gesicht, sie gab seinem makellosen Aussehen den Anflug einer rohen, unverstellten Natürlichkeit. Er blickte drein, als erwöge er mindestens ein Dutzend Möglichkeiten, wie er sie für ihre Dreistigkeit, ihn einfach zu verlassen, bestrafen könnte. Sein Blick bewirkte, dass sie eine Gänsehaut bekam.
Mit einem tiefen Atemzug trat sie zurück, um Harry einzulassen. Vorsichtig schloss sie die Tür.
Die Stille war drückend, die Luft aufgeladen mit Emotionen, für die sie keinen Namen fand. Sie spürte ein heftiges Pochen in den Kniekehlen, in den Armbeugen und in der unteren Bauchgegend, als Harry sie mit Blicken verschlang. »Wenn du noch einmal versuchst, mich zu verlassen«, sagte er mit einer leisen Drohung in der Stimme, »werden die Konsequenzen schlimmer sein, als du sie dir heute vorstellen kannst.« Und er führte weiterhin aus, dass es Regeln gäbe, die sie zu befolgen hätte, und Dinge, die er nicht tolerieren würde, und wenn sie eine Lektion bräuchte, wäre er verdammt nochmal gern bereit, ihr eine zu erteilen.
Trotz seines scharfen Tons, überkam Poppy eine Welle der Zärtlichkeit. Er wirkte so angestrengt, so hilflos und trostbedürftig.
Ohne noch einmal darüber nachzudenken, ging sie unmittelbar auf ihn zu, hob alle Distanz zwischen ihnen auf. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, schmiegte sich an ihn und verschloss seinen Mund mit einem Kuss.
Sie konnte spüren, dass die zärtliche Berührung wie ein Blitz in ihn einschlug. Der Atem stockte ihm in der Kehle, und er packte sie bei den Armen und hielt sie gerade weit genug von sich, um sie ungläubig anzustarren. Sie spürte, wie stark er war, imstande, sie entzweizubrechen, wenn er es wollte. Wie angewurzelt stand er da. Was auch immer er in ihrem Gesicht sah, es schien ihn nicht mehr loszulassen.
Poppy ließ sich nicht beirren. Entschlossen reckte sie sich wieder zu ihm empor, um ihren Mund auf seinen zu legen. Er ließ es nur einen Augenblick zu, dann stieß er sie wieder fort. Er schluckte sichtbar. Wenn ihn der erste Kuss zum Schweigen gebracht hatte, so hatte ihn der zweite ganz und gar entwaffnet.
»Poppy«, sagte er heiser. »Ich wollte dir nicht wehtun. Ich habe versucht, vorsichtig zu sein.«
Poppy legte die Hand sanft an seine Wange. »Glaubst du wirklich, das ist der Grund für mein Verschwinden, Harry?«
Die Liebkosung schien ihm die Sprache verschlagen zu haben. Der Mund blieb ihm in einer stummen
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