Zärtlicher Nachtwind - Kleypas, L: Zärtlicher Nachtwind - Tempt me at Twilight
weiterzusprechen. Sie starrte auf das eingerollte Frettchen auf ihrem Schoß und streichelte das seidige Fell. Schließlich gelang es ihr, den Blick ins Leere gerichtet, mit angestrengter Stimme zu antworten: »Sie starb am Tag, bevor er in London eintraf.« Ihre Finger verschränkten sich. »Wieder war sie ihm entwichen. Ich glaube, jede Hoffnung auf Antworten, jede Hoffnung auf Zuneigung, starb mit ihr.«
Die drei Frauen schwiegen.
Poppy war überwältigt.
Wie musste es für ein Kind sein, in einer so toten, lieblosen Umgebung aufzuwachsen? Es musste sich für ihn angefühlt haben, als hätte die Welt selbst ihn betrogen. Was für eine schreckliche Last, die ihm da auferlegt wurde.
Ich werde dich niemals lieben , hatte sie ihm an ihrem Hochzeitstag gesagt. Und seine Antwort …
Ich habe nie danach verlangt, geliebt zu werden. Und bislang hat es weiß Gott niemand getan.
Poppy schloss die Augen. Das war kein Problem, das man in einem Gespräch lösen konnte, nicht an einem Tag, und auch nicht in einem Jahr. Das war eine verletzte Seele.
»Ich wollte es dir schon vorher erzählen«, hörte sie Catherine sagen. »Aber ich hatte Angst, es könnte dich noch stärker auf seine Seite ziehen. Du hast dich schon immer leicht zum Mitleid bewegen lassen. Und die Wahrheit ist, Harry wird dein Mitgefühl niemals haben wollen, und vielleicht nicht einmal deine Liebe. In meinen Augen ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass er der Ehemann werden kann, den du verdienst.«
Poppy blickte sie durch tränenverschleierte Augen an. »Warum erzählst du mir dann all das?«
»Ich habe zwar immer geglaubt, dass Harry nicht zur Liebe fähig sei, aber ich kann nicht vollkommen sicher sein. Ich war mir noch nie über etwas sicher, was mit Harry zu tun hatte.«
»Miss Marks«, begann Poppy und korrigierte sich umgehend. »Catherine. Welche Verbindung besteht zwischen dir und Harry? Woher weißt du all diese Dinge über ihn?«
Eine sonderbare Reihe von Ausdrücken huschte über Catherines Gesicht … Besorgnis, Kummer, ein flehender Blick. Sie begann sichtbar zu zittern, bis das Frettchen in ihrem Schoß mit einem Schluckauf erwachte.
Als sich das Schweigen hinzog, warf Poppy ihrer ältesten Schwester einen fragenden Blick zu. Amelia antwortete mit einem kurzen Nicken, als wollte sie ihr sagen: Hab Geduld.
Catherine nahm ihre Brille ab und polierte die beschlagenen Ecken der Gläser. Ihr Gesicht war vor Nervosität ganz feucht geworden, die feine Haut glänzte perlmuttfarben. »Ein paar Jahre nachdem Nicolette mit ihrem Geliebten nach England gegangen war, bekam sie ein zweites Kind. Ein Mädchen.«
Nun war es Poppy überlassen, die Verbindung herzustellen. Sie spürte, wie sie die Fingerknöchel sanft gegen die Lippen presste. »Dich?«, brachte sie schließlich hervor.
Catherine blickte auf, die Brille noch in den Händen. Sie hatte ein anmutiges, fein gezeichnetes Gesicht, doch lag in den hübschen, harmonischen Zügen etwas Unverblümtes, Entschlossenes. Ja, da war etwas von Harry in diesem Gesicht. Und eine Intensität in ihrer Zurückhaltung, die von tief verborgenen Gefühlen zeugte.
»Warum hast du nie davon erzählt?«, fragte Poppy verblüfft. »Warum hat mein Mann es nicht erwähnt? Warum ist deine Existenz so ein Geheimnis?«
»Zu meinem Schutz. Ich nahm einen neuen Namen an. Den Grund darf niemand je erfahren.«
Poppy wollte noch so viel fragen, aber es schien, als hätte Catherine Marks die Grenze des Ertragbaren erreicht. Sie murmelte eine Entschuldigung und noch eine, erhob sich und setzte das schläfrige Frettchen hinunter auf den Teppich. Sie schnappte sich ihren Schuh und verließ den Raum. Dodger schüttelte sich und folgte ihr umgehend.
Wieder alleine mit ihrer Schwester, betrachtete Poppy den kleinen Stapel von Törtchen auf dem Tisch.
»Tee?«, fragte Amelia und brach das lange Schweigen.
Poppy antwortete mit einem abwesenden Kopfnicken.
Nachdem sie sich Tee eingeschenkt hatten, griffen sie beide nach den Törtchen, hielten sie mit den Fingern und bissen vorsichtig ab. Zitronenglasur, Zuckersirup, die Kruste samtig und krümelig. Es war einer der Geschmäcke ihrer Kindheit. Poppy spülte ihn mit einem Schluck heißen milchigen Tees hinunter.
»Dinge, die mich an unsere Eltern erinnern«, sagte Poppy gedankenversunken, »und an das wunderhübsche Cottage in Primrose Place … haben auf mich immer eine tröstende Wirkung. So wie diese Törtchen. Und die Blümchenvorhänge. Und die Lektüre von Aesops
Weitere Kostenlose Bücher