Zärtlicher Nachtwind - Kleypas, L: Zärtlicher Nachtwind - Tempt me at Twilight
könnten.
Poppy ging zum Kleiderschrank und betrachtete die sorgfältig gebügelten Kleider in ruhigen, gedeckten Farben, die fein säuberlich auf der Stange hingen. Besonders ins Auge fielen die strengen weißen Kragen und Ärmelaufschläge. »Welches Kleid darf ich Ihnen bringen?«, fragte sie sanft.
»Irgendeins. Darauf kommt es nicht an.«
Poppy wählte ein dunkelblaues Kleid aus Wollköper und legte es auf das zerwühlte Bett. Taktvoll wandte sie ihren Blick ab, während die Gesellschafterin das Nachthemd ablegte und Unterhemd, Schlüpfer und Strümpfe anzog.
Poppy wollte Miss Marks, die ohnehin schon an Kopfschmerzen litt, nicht beunruhigen. Doch war es ihr ein dringendes Bedürfnis, die morgendlichen Ereignisse zu beichten. Sollte ihr Missgeschick mit Harry Rutledge auch nur teilweise ans Licht kommen, wäre es zudem besser, wenn ihre Gesellschafterin vorbereitet war.
»Miss Marks«, begann sie zögerlich, »ich möchte Ihre Kopfschmerzen nicht noch schlimmer machen, aber es gibt etwas, was ich Ihnen sagen muss …« Sie verstummte, als sie Miss Marks’ gequälten Blick sah.
»Was ist passiert, Poppy?«
Jetzt war kein guter Zeitpunkt, beschloss Poppy. Genau genommen … musste sie denn überhaupt etwas sagen? Höchstwahrscheinlich würde sie Harry Rutledge nie wiedersehen. Er nahm gewiss nicht an denselben gesellschaftlichen Ereignissen teil wie die Hathaways. Und überhaupt, warum sollte er einem Mädchen Ärger bereiten wollen, das für ihn überhaupt nicht von Interesse war? Er hatte so wenig mit ihrer Welt zu tun wie sie mit seiner.
»Gestern beim Abendessen ist etwas Soße auf mein rosafarbenes Musselinkleid getropft«, improvisierte Poppy. »Nun ist dort ein hässlicher Fettfleck zu sehen.«
»Oh, Liebes.« Miss Marks, die gerade damit beschäftigt war, die Haken ihres Korsetts zu verschließen, hielt inne. »Wir werden eine Lauge aus Hirschhornsalz und Wasser zubereiten und den Fleck damit einreiben. So wird er sich doch hoffentlich entfernen lassen.«
»Das ist eine ausgezeichnete Idee.«
Schuldbewusst hob Poppy Miss Marks’ Nachthemd vom Boden auf und legte es gewissenhaft zusammen.
Viertes Kapitel
Jake Valentine war als filius nullius , als »nichteheliches Kind« geboren worden. Seine Mutter Edith war das Hausmädchen eines wohlhabenden Rechtsanwalts aus Oxford gewesen, und sein Vater ebenjener Anwalt. Um Mutter und Sohn auf einen Streich loszuwerden, hatte er einen rüpelhaften Bauern bestochen, Edith zu heiraten. Im Alter von zehn Jahren, als er genug von den Prügeln und der Tyrannei des Bauern hatte, verließ er sein Zuhause und machte sich auf den Weg nach London.
Zehn Jahre lang arbeitete er in einer Schmiede und erwarb sich neben einer beachtlichen Größe und Körperkraft auch einen Namen als tüchtiger Arbeiter, dem man vertrauen konnte. Jake war es nie in den Sinn gekommen, noch etwas anderes zu wollen. Er hatte Arbeit und stets genug zu essen, und die Welt außerhalb Londons regte sein Interesse nicht.
Eines Tages aber kam ein dunkelhaariger Mann in die Schmiede und verlangte Jake zu sprechen. Von des Gentleman edlen Kleidern und kultiviertem Gebaren eingeschüchtert, beantwortete Jake kleinlaut eine Vielzahl von Fragen über seinen persönlichen Werdegang und seine Arbeitserfahrung. Zuletzt überraschte ihn der Mann mit dem Angebot, ihn als seinen persönlichen Kammerdiener einzustellen und ihm ein Vielfaches seines jetzigen Gehalts zu bezahlen.
Misstrauisch hatte sich Jake erkundigt, warum er ausgerechnet ihn einzustellen gedachte, einen blutigen Anfänger, der über keinerlei Erfahrung auf dem Gebiet verfügte, weitgehend ungebildet und in Wesen und Erscheinung eher grob geschnitzt war. »Ihr könntet Euch einen der besten Kammerdiener Londons aussuchen«, hatte Jake bemerkt. »Warum ausgerechnet jemanden wie mich?«
»Weil diese Leute allesamt notorische Klatschmäuler und mit der Dienerschaft namhafter Familien in ganz England und sogar auf dem Kontinent bekannt sind. Von Ihnen aber sagt man, dass Sie den Mund halten können, was ich viel mehr zu schätzen weiß als Erfahrung. Außerdem machen Sie den Eindruck, als könnten Sie mir bei so mancher Auseinandersetzung gute Dienste leisten.«
Jakes Blick verdunkelte sich. »Warum sollte ein Kammerdiener in die Verlegenheit kommen zu kämpfen?«
Der Mann lächelte. »Sie werden Erledigungen für mich machen. Einige werden ein Kinderspiel sein, andere nicht. Also, sind Sie dabei?«
So war Jake zu einer Anstellung bei
Weitere Kostenlose Bücher